Das Thema Gewalt an Frauen ist heute so präsent wie eh und je. Nur schaffen es mittlerweile immer mehr Frauen, zumindest in privilegierten Ländern wie unserem, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen, ihre Peiniger zur Verantwortung zu ziehen und sich Hilfe zu suchen – oft aber erst nach einigen Jahren, oder auch Jahrzehnten.

Als Außenstehender erwischt man sich vielleicht dabei, mit etwas Unverständnis zu überlegen, warum Opfer von Gewaltbeziehungen so lange in jenen ausharren, bevor sie sich Hilfe suchen – wenn sie das überhaupt tun. Wir haben uns mit Frau Brem, der Leiterin des Vereins Wiener Frauenhäuser getroffen, um mit ihr über dieses schwierige Thema zu sprechen.

Warum „gehen Frauen nicht einfach“?

Diese Frage hört und liest man immer wieder. „Von dem Arschloch hätte ich mich sofort getrennt!“ und Selber Schuld, wenn sie so blöd ist und bleibt! sind nur einige der Kommentare, die sich beispielsweise unter Artikeln über Amber Heard und Johnny Depps Scheidungskrieg reihen.

Für die Tatsache, dass Frauen ihre Männer nicht schon nach der ersten Gewalttat verlassen, gibt es laut Frau Brem zahlreiche verschiedene Gründe – allen voran Kinder, finanzielle Abhängigkeit, Sprachbarrieren im Falle von ausländischen Frauen, den Wunsch, die Familie zu erhalten oder auch das Alter. „Eine Frau mit 60 Jahren hat natürlich Angst davor, plötzlich alleine zu sein„, erklärt die Expertin.

Außerdem gebe es in Gewaltbeziehungen, wie in jeder Partnerschaft, ja nicht nur schlechte Zeiten, sondern „auch schöne Phasen, guten Sex, Versprechungen und Liebeserklärungen„, die die Hoffnung nähren, dass doch noch alles besser werden könnte.

Kommen Frauen eher erst nach vielen Jahren Gewalt ins Frauenhaus, oder gibt es auch solche, die schon nach dem ersten Mal Hilfe suchen?

Das ist ganz unterschiedlich„, meint Frau Brem. Manche Frauen kommen schon nach dem ersten Mal, andere erst nach Jahrzehnen. Dabei muss man bedenken, „dass der körperlichen Gewalt meist psychische Gewalt voran geht. Kein liebevoller, zärtlicher Mann wird über Nacht zum aggressiven Gewalttäter. Meist gibt es vor dem tatsächlichen körperlichen Übergriff bereits eine lange Geschichte der psychischen Unterdrückung.

Wie alt sind die Frauen, die das Frauenhaus aufsuchen, im Schnitt?

Ab der Volljährigkeit ist hier jede Altersstufe dabei, erklärt Frau Brem. Die älteste Dame war 95 Jahre.

Wie wird Betroffenen im Frauenhaus geholfen?

Hier haben sie einen sicheren Wohnplatz für sich und ihre Kinder, und werden individuell betreut und beraten – über Finanzen, Scheidung, Arbeitsplatz-Suche und so weiter„.

Stichwort Anzeige – wie viele Frauen bringen ihre gewalttätigen Männer tatsächlich vor Gericht?

Nicht viele, meint Frau Brem. Die meisten Opfer von Gewalt haben Angst, dass ihre Männer dann endgültig durchdrehen. Außerdem steht betroffenen Frauen mit einer Anzeige eine unangenehme und oft abschreckende Prozedur bevor: „Sie müssen mit fremden Menschen über intime Dinge sprechen, wie die Sexualität, die in Gewaltbeziehungen ja sehr oft als Druckmittel und Möglichkeit, Dominanz auszuüben verwendet wird„. Sexuelle Nötigung in der Ehe sei hier ebenfalls ein großes Thema. Oft gilt außerdem, wie auch bei Vergewaltigungen, die Devise: Keine sichtbaren Verletzungen, keine Beweise, keine Chance. Trotzdem findet es Frau Brem extrem wichtig, gewalttätige Männer vor Gericht zu bringen, „… denn nur so merken sie, dass dieses Verhalten inakzeptabel ist. Und selbst ein Freispruch macht einem Gewalttäter viel Stress„.

Wann fängt Gewalt in der Beziehung eigentlich an?

Gewalt beginnt, wenn der Mann seine Partnerin bewusst manipuliert und demütigt. Sehr oft äußert sich das zum Beispiel in abfälligen Aussagen über das Aussehen der Frau„, erklärt die Expertin. Meist versuchen gewalttätige Männer auch, ihre Partnerin zu kontrollieren, verbieten ihr, sich mit Freunden zu treffen und drohen ihr mit Konsequenzen, wenn sie sich nicht an seine Regeln hält. Respektloses Verhalten, Demütigung (oft auch vor anderen Menschen) und Isolation sind Formen von psychischer Gewalt, die der physischen Gewalt oft voran gehen.

Was würden Sie Frauen raten, deren Freund/Mann „nur“ ein Mal handgreiflich wurde und versprochen hat, es niemals wieder zu tun?

Wenn er es wirklich bereut, muss er unbedingt eine Beratung aufsuchen. Wer einmal schlägt und sich nicht bewusst damit auseinandersetzt, wird es höchstwahrscheinlich wieder tun. Ein Mann, der seine Frau über alles liebt, dem aber einmal die Hand ausrutscht, hat sowieso automatisch Angst vor diesem Kontrollverlust und möchte ihn verstehen und etwas dagegen tun.“ Hierfür empfielt Frau Brem die Männerberatungsstelle. Hier können sich junge Männer, die merken, dass sie zur Gewalttätigkeit neigen, Hilfe holen. Und „… ein ‚echter Mann‘ hat keine Angst davor, sich Hilfe zu suchen.

Wie soll man reagieren, wenn man vermutet, dass eine Kollegin, Bekannte oder Freundin von ihrem Partner misshandelt wird? Darf man das offen ansprechen?

Ja„, meint Frau Brem. Dann müsse man aber damit rechnen, dass die Betroffenen ihre Abwehrmechanismen aktivieren, dass ihnen die Frage extrem unangenehm ist und sie sich beschweren, dass man sich einmischt. Trotzdem – die Frage „Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht. Kann ich dir irgendwie helfen?„, ist NIEMALS falsch.

Was können Männer dazu beitragen, dass die Gewalt an Frauen endlich ein Ende hat?

Männer können hier sehr viel tun„, meint Frau Brem. Sie können Vorbilder für ihre Söhne und Freunde sein und ihnen ein Weltbild vermitteln, in dem Gewalt gegen Frauen keinen Platz hat. Hier gibt es zum Beispiel die virale White Ribbon-Bewegung, im Rahmen derer sich Männer aus aller Welt für Frauen stark machen.

Es muss außerdem aktiv zu einem neuen Männerbild beigetragen werden, das dazu führt, dass die nächsten Generationen lernen, dass sie keine Angst vor ihren Gefühlen haben müssen und dass sie nicht „schwach“ sind, wenn sie sich Hilfe suchen.

Was würden sie jungen Frauen raten?

Frauen müssen viel mehr in sich hineinspüren, erklärt die Expertin. „Sie müssen keine Dinge tun, die sie nicht wirklich wollen, bei denen sie sich nicht 100%ig wohlfühlen. Das beginnt schon beim Sex. So viele Frauen wissen gar nicht, was ihnen gefällt, weil sie immer nur das tun, was die Männer wollen. ‚Was will ich?‘, ‚Was geht überhaupt nicht?‘ – mit diesen Fragen müssen sich Frauen viel intensiver auseinandersetzen!“ Besonders wichtig sei es auch, dass vor allem junge Frauen alles daran setzen, in keine Abhängigkeit zu rutschen, sich selbst ernähren zu können und so die Möglichkeit haben, zu gehen, wenn sie gehen wollen.

Wenn sie oder eine Bekannte, Verwandte oder Freundin Hilfe brauchen, können sie sich kostenlos an die Beratungsstelle der Wiener Frauenhäuser wenden.

Notruftelefon (Tag und Nacht): 05 77 22
Kostenlose Beratungsstelle: 01/512 38 39

Wir bedanken uns herzlich bei Frau Brem für das spannende Gespräch.