Ein junges Mädchen wird von ihrem Onkel über vier Jahre lang vergewaltigt. Mit zehn Jahren erwartet sie ein Kind. Das Krankenhaus lehnt die eigentlich legale Abtreibung des Fötus aber ab. Offiziell, weil es nicht über die notwendigen technischen Voraussetzungen verfügt.

Die Gesundheit des Mädchens ist in Gefahr. Die Familie muss tausende Kilometer hinter sich bringen, um die Abtreibung in einem anderen Spital durchführen zu lassen. Auf ihrem Weg erwarten sie Abtreibungsgegner. Die rechte Aktivistin Sara Winter hat den Namen des Mädchens sowie des Krankenhauses auf Social Media veröffentlicht. Der Arzt, der für den Schwangerschaftsabbruch zuständig ist, wird von ihnen als „Mörder“ bezeichnet.

Aktivisten gegen Abtreibung bei zehnjährigem Mädchen

Die Geschichte des zehnjährigen Mädchens ist weder Inhalt der neuen Staffel von „The Handmaid’s Tale“ noch ist es eine historische Anekdote aus einer Zeit, die längst vorbei ist. Es ist die Realität eines brasilianischen Kindes, die Ende August international für Schlagzeilen sorgte. Ihre Geschichte sorgte in dem südamerikanischen Land für heftige Kontroversen. Rechte Aktivisten waren gegen eine Abtreibung bei dem zehnjährigen Mädchen. Eine erneute Debatte zur Verschärfung der Gesetze entfachte.

Und das, obwohl die Abtreibungsgesetze in Brasilien ohnehin schon sehr streng sind. Generell sind Schwangerschaftsabbrüche nämlich verboten. Den Frauen drohen sogar zwischen einem und drei Jahren Haft. Ausnahmen gibt es seit 1940, wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstanden oder das Leben der Mutter gefährdet ist. Seit 2012 ist eine Abtreibung zudem auch dann erlaubt, wenn Ärzte bei dem Fötus die schwere Missbildung der Anenzephalie feststellen. Denn die Lebenserwartung bei dieser Schädelfehlbildung beträgt nach der Geburt lediglich nur ein paar Stunden.

Nun wurden die Abtreibungsgesetze in Brasilien weiter verschärft. Denn das Gesundheitsministerium erließ neue Vorschriften für Frauen, die nach einer Vergewaltigung abtreiben wollen. So müssen Ärzte künftig eine Vergewaltigung bei der Polizei melden, mögliche Beweise der Tat einreichen, die zur Identifikation des Täters beitragen und einen Bericht anlegen, mit allen medizinischen und technischen Daten. Dieser muss schließlich von drei Fachkräften unterzeichnet werden. Die Frau selbst, beziehungsweise ihr gesetzlicher Vertreter, muss außerdem eine Erklärung unterschreiben, in der sie sich mit den Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs einverstanden erklärt. Zudem muss sie von den Ärzten aufgefordert werden, sich den Embryo oder Fötus auf Ultraschallbildern anzusehen.

Polen bewegt sich auf Abtreibungsverbot zu

Brasilien ist nicht das einzige Land, das mit noch strengeren Abtreibungsgesetzen liebäugelt. Polens Präsident Andrzej Duda ist ebenfalls Abtreibungsgegner. Die Abtreibungsregeln in dem europäischen Land gehören ohnehin schon zu den strengsten in Europa. Ein Abbruch ist momentan nur legal, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet, die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder wenn das Ungeborene schwere Fehlbildungen hat. Anfang des Jahres machte das polnische Parlament Schlagzeilen, weil es in der ersten Lesung die Verschärfung der Ableitungsregeln genehmigte. Die Abgeordneten der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der rechten Konfedereacja sowie Teile der konservativen Bauernpartei stimmten für einen Gesetzesentwurf, den die Stiftung Leben und Familie vorgelegt hatte. Durch die Änderung sollen schwere Fehlbildungen oder eine unheilbare Krankheit des Kindes nicht länger als Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch gelten.

Die Sprecherin der Stiftung Leben und Familie, Kaja Godek, begründete den Vorstoß folgendermaßen: „Dieser Gesetzentwurf ist vor allem eine Chance, die Diskriminierung von Behinderten zu beenden. Nach dem geltenden Gesetz haben sie kein Recht auf Leben.“ Im Jahr 2018 sollte das polnische Abtreibungsrecht schon einmal verschärft werden. Das Vorhaben scheiterte aber an massivem gesellschaftlichen Widerstand. Und auch der Vorstoß im Frühjahr 2020 führte landesweit zu Protesten. Proteste, die von der Corona-Pandemie überschattet wurden. „Das letzte Mal wurde die Versammlungsfreiheit während des Lockdowns massiv eingeschränkt – und damit auch die Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Und auch die verbalen und physischen Angriffe auf queere Menschen häuften sich im Zuge der hasserfüllten Präsidentschaftskampagne in den letzten Monaten. Dagegen wollen wir am Montag ein klares Zeichen setzen“, erklärt Alicja Flisak, Sprecherin von Dziewuchy Berlin, einem polnischen Pro-Choice Kollektiv in Deutschland.

„Die Polizisten wollen Vergewaltigung meist gar nicht als Straftat aufnehmen“

Der Gesetzesentwurf der Stiftung Leben und Familie liegt nun im Ausschuss. Unabhängig davon wagt die konservative Regierung nun erneut einen Vorstoß für ein strengeres Abtreibungsgesetz. Am 22. November stimmt der Verfassungsgerichtshof darüber ab, ob Schwangerschaftsabbrüche bei Fehlbildungen der Föten verfassungskonform sind. „Da das Gericht von der Regierungspartei abhängig ist, könnte ein totales Abtreibungsverbot bald zur Realität werden“, so Flisak. Die Verschärfung der Schwangerschaftsabbruchregeln komme deswegen einem totalen Abtreibungsverbot nahe, da nahezu 97 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche in Polen aufgrund von Fehlbildung der Ungeborenen durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass Abtreibungen nach Vergewaltigungen und bei Gefährdung der Mutter zwar offiziell legal seien, die Frauen in der Praxis aber auf Hindernisse stoßen würden. „Die Prozeduren, die Frauen durchmachen müssen, um eine Vergewaltigung nachzuweisen sind grausam. Die Polizisten wollen die Vergewaltigung meist gar nicht als Straftat aufnehmen“, so Flisak. Es sei so unheimlich schwierig, eine Erlaubnis für eine Abtreibung innerhalb der Frist zu bekommen.

Das konservative Familienbild als Grund für strenge Abtreibungsregeln

Ein Grund für die heftige Debatte um strengere Gesetze ist für Alicja Flisak sicherlich die Macht der katholischen Kirche in Polen. Diese wiederum habe einen starken Einfluss auf das konservative Familienbild der rechten Regierungspartei PiS.

Konservative Mächte sind auch in Brasilien am Spiel. Zwar ist die Zustimmung für den konservativen Präsidenten Jair Bolsonaro so gering wie nie zuvor, doch für sein konservatives Vorgehen in Sachen Abtreibungen erhält er Unterstützung in der Bevölkerung. Erst im Februar zeigte eine Meinungsumfrage, dass eine breite Mehrheit der Brasilianer das Abtreibungsverbot für gut befindet. Der Leiter der nationalen Kulturstiftung Funarte, Dante Mantovani, sagte im Dezember, dass Rockmusik zu Drogenkonsum, dieser zu Sex und der wiederum zu Abtreibungen führe. Außerdem ortete er eine „Abtreibungslobby“, die den Satanismus fördere. Die Frauen-, Familien- und Menschenrechtsministerin Damares Alves reichte im vergangenen September eine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft gegen das Onlinemagazin AzMina ein, weil es die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO zu sicheren Abtreibungen veröffentlicht hatte – womit es Werbung für eine Straftat betrieben hätte.

Ob in Brasilien oder in Polen: Es sind vor allem konservative, oftmals männliche Politiker, die sich für ein strengeres Abtreibungsgesetz aussprechen. Es sind konservative Mächte, die ein traditionelles Familienbild bewerben. Ein Bild, in dem die Frau für Haushalt und Kinder zu sorgen hat.

Tabuthema Abtreibung

In Ländern wie Deutschland und Österreich sieht die Sache gesetzlich etwas liberaler aus. Dennoch reden nur die wenigsten Betroffenen offen über das Thema Abtreibung. In unserer Gesellschaft ist es immer noch ein Tabuthema. Und das, obwohl es theoretisch die Hälfte der Bevölkerung, nämlich alle Frauen, auf die ein oder andere Art und Weise betrifft. Ein „Frauenthema“ also, das oftmals von anderen Themen überschattet wird. Wie so viele andere wichtige Themen, über die nur selten gesprochen wird, weil sie vor allem Frauen betreffen – Menstruation, Endometriose, Kinderbetreuung und und und.

„Ich denke, es ist sehr stark in unseren Köpfen verankert, ‚eigentlich soll oder darf ich das nicht machen'“, erklärt sich Michaela Kaiser, Vorsitzende des österreichischen Vereins für Schwangerschaftsberatung ZOE, das Tabu rund um den Schwangerschaftsabbruch. Eine Situation, die vielleicht auch dazu führt, dass viele Frauen nach einer Abtreibung nicht komplett damit abschließen können. „Die Frauen sollten nicht so tun, als wäre nichts. Der Abbruch macht etwas mit uns. Den Frauen muss bewusst werden, dass Verdrängung die schlechteste Lösung ist. Wir haben immer wieder mit Frauen zutun, die an Depressionen leiden, weil sie die Abtreibung nicht aufgearbeitet haben“, erklärt Kaiser.

An ZOE wenden sich Frauen aus verschiedensten sozialen Schichten und mit unterschiedlichsten Hintergründen. Wirklich ausschlaggebende Zahlen zum Thema Abtreibung gibt es in Österreich übrigens nicht. „Es wäre wichtig Statistiken und Zahlen zu haben, damit man – ohne zu werten – sieht, wo man ansetzen und wo man unterstützen kann“, kritisiert Kaiser. Wieso es die hierzulande noch nicht gibt, kann sie sich auch nicht erklären. „Vielleicht gibt es momentan wichtigere Themen…“, überlegt sie.