Loslassen kann nicht jeder. Immerhin bedeutet das meistens auch einen Sprung ins Ungewisse. Loslassen ist endgültig. Alleine schon das Wort löst in Vielen großes Unbehagen aus.

Dabei kann das Festklammern an Altem ziemlich belastend sein und ein Neuanfang unzählige Möglichkeiten bieten. Aber nicht immer muss man sich von Altem trennen.

Alte Möbel und noch ältere Teddybären

Seit 6 Jahren lebe ich in der gleichen Wohnung mit den gleichen Möbeln und dem gleichen Teddybären, der mich bereits mein ganzes Leben lang begleitet. In der Küche stapelt sich Geschirr, das sich bereits in der Küche meiner Großmutter stapelte und auf den Wänden hängen Bilder, die mir mein Bruder zeichnete, als ich zehn Jahre alt war. Er war schon als kleines Kind ein sehr begabter Zeichner und Maler. Sein Talent ist aber nicht der Grund, warum ich die Bilder an die Wand genagelt habe. Sonst hätte sich vor einigen Jahren nicht auch ein unglaublich schreckliches Kartoffel-Druck-Kunstwerk meiner Nichte dazu gesellt. Nein, ich führe kein strenges Auswahlverfahren: Die Bilder müssen mir etwas bedeuten und mich an etwas erinnern. Und irgendwie verhält sich das auch mit anderen Dingen in meinem Leben.

Meine Möbel haben mir nie etwas bedeutet. Ich habe sie damals von meiner Vormieterin übernommen. Sie waren billig und bereits in der Wohnung: Absolut perfekt für eine junge Studentin, die sich selbst erhalten muss. Jetzt bin ich keine Studentin mehr, die Möbel sind trotzdem geblieben. Aus Bequemlichkeit mehr als sonst irgendwas. „Weil ich nie in der Wohnung bin, ist es ja ziemlich egal“, erkläre ich es Besuchern, die mich fragend ansehen, wenn ich mich darüber aufrege, dass mein Bett, mein Schrank, mein Regal – alles in meiner 30 Quadratmeter großen Einzimmer-Wohnung schwarz ist. Anfang 2020 ändert sich das alles: Home Office und Social Distancing zwingen mich, Stunden über Stunden, Tage über Tage und Wochen über Wochen in meiner Wohnung zu verbringen. Zum ersten Mal in meinem Leben entscheide ich mich bewusst loszulassen: „Die Möbel müssen raus“.

Kleidung, die ich nie anziehe

Gesagt, getan. Bett, Kasten, Regal: Alles ist im Laufe von drei Tagen unter viel Fluchen ausgetauscht. Aus schwarz wird weiß, auf unversehrte Haut kommen blaue Flecken und rote Blutergüsse. Die Wohnung ist erhellt und sieht aus wie neu. Gemeinsam mit einer Freundin erfülle ich mir schließlich meinen ultimativen „Marie Kondo“-Traum und organisiere meinen wunderschönen, neu duftenden, weißen Kleiderschrank. „Das ist jetzt die achte Jeans“, erklärt sie mir und reicht mir tatsächlich die achte identische Hose, die ich einordne. „Ja, aber die hatte ich an als ich meine Master-Arbeit geschrieben habe“, erkläre ich und hasse mich dabei selbst.

„Damit hab‘ ich dich noch nie gesehen“, sagt sie und hält ein Kleid in ihren Händen, das ich nur allzu gut kenne. „Das ist das letzte Geburtstagsgeschenk von der Mama. Das habe ich ständig an, nur eben nicht, wenn du mich siehst“, rechtfertige ich mich erneut. „Und das hat Schulterpölster“, verkündet sie mit müdem Blick und zeigt auf einen Blazer, von dem ich eigentlich gedacht habe, dass ich ihn schon längst weggeschmissen habe. „Der hat der Mama gehört“, sage ich und hänge ihn in den Schrank.

Mein persönlicher „Marie Kondo“-Fail lässt mich nachdenken. „Wieso habe ich so viel Kleidung, die ich nie anhabe, aber von der ich mich nicht trennen kann?“ Während ich versuche Antworten zu finden, schweift mein Blick vom Kleiderschrank zum Bücherregal. Es ist voll geräumt mit Romanen, Sachbüchern und Comics. Darauf bin ich sogar recht stolz. Es erinnert mich an eine kleine Version der Bücherwand meines Vaters, die ich schon als Kind heiliggesprochen habe. Mein Blick wandert weiter nach unten. Das letzte Fach quillt über, alte Tageszeitungen und Monatsmagazine hängen wie spottende Zungen heraus. Ich habe sie alle aufgehalten, weil „man weiß ja nie“ und für „Recherchezwecke“. Ich verschränke die Arme vor meinem Kopf und lass‘ mich auf mein neues Bett fallen. „Wer bin ich?“, frage ich mich und suche nach meinem Laptop, um zu googeln, ab wann man als Horter gilt.

Das Jahr des Loslassens

Ich frage mich, ob mein Horten von alten, materialistischen Dingen auch bedeutet, dass ich sonst nichts im Leben loslassen kann. 2020 musste ich mich von vielen Dingen verabschieden. Von der Freiheit, meine Nichte und meinen Neffen, die im Ausland wohnen, zu sehen. Von meinem gewohnten Alltag. Vom Tanzen im Club mit meinen Freunden. Und von unüberlegten Umarmungen und freundlichen Handschlägen. Von unbeschwerten Besuchen bei der Familie. Von meiner Beziehung. Das alles ist zumindest teilweise Vergangenheit und dennoch hänge ich noch immer daran. Wirklich akzeptieren und loslassen kann ich nichts davon. Und manches muss auch nicht für immer verabschiedet werden. Doch während ich die alten Zeitschriften aus dem untersten Fach meines Bücherregals prustend anhebe und in einen Müllsack packe, wird mir klar, dass ich mich vielleicht auch von einigen anderen Dingen endgültig trennen sollte.

Ich trenne mich nicht gerne von Menschen. Ich habe noch immer Kontakt mit Freunden aus dem Kindergarten und selbst, wenn uns Länder und Ozeane trennen, schreiben wir uns zumindest hin und wieder. Und dann ist es so, als wäre keine Zeit vergangen. Mit meinen Beziehungen war das bisher etwas anders. Da brauchte ich einen klaren Schlussstrich und auch wenn das Loslassen nie einfach war, wusste ich, dass es nicht anders ging.

Bis jetzt zumindest. Denn nach meiner letzten Trennung wollte ich nicht einfach loslassen. Ich wollte nicht einfach akzeptieren, das die Beziehung der Vergangenheit angehört. Ich hatte so wenig Kontrolle darüber, was 2020 passiert, ich wollte nicht auch noch die Person verlieren, mit der ich bisher über alle Sorgen reden konnte. Also hielt ich an etwas fest, das längst nicht mehr da war. Ich hielt weiterhin Kontakt mit meinem Ex-Freund. In meinem Hinterkopf hatte ich weiterhin irgendwie die Hoffnung, dass alles wieder so wird wie früher.

Nicht alles muss man loslassen

Ich gehe also mittlerweile gebückt und schon ziemlich aus der Puste zum dritten Mal ins Erdgeschoss meines Wohnhauses und werfe die Zeitungen von 2014 in den Papiermüll. Ich fühle mich erleichtert und frei und entschließe mich auch alles andere loszulassen, an dem ich dieses Jahr noch immer hänge. Denn ich merke, wie es mich hinunterzieht, wie mich all die Dinge, an denen ich mich festklammere, langsamer und schwerer machen. Wenige Tage später reicht mir mein Vater eine rote Mappe mit meinem Namen darauf. Als ich sie öffne, fällt mir altes Puppengewand, Briefe ans Christkind, Geschichten über die Abenteuer eines Veilchens, Postkarten von einem schüchternen Schulkind und alte Zeichnungen von einer weniger begabten Hand als die meines Bruders entgegen. Erinnerungen an meine Kindheit. Ich muss lächeln. Offenbar muss man doch nicht alles loslassen. Eben nur die Dinge, die einen belasten. Dann hat man auch viel mehr Zeit für schöne Erinnerungen. Ich krame weiter in der Mappe, die mir mein Vater zusammengestellt hat. Es fallen unzählige zusammengebundene Haare heraus. „Emily, 3 Jahre“, „Emily, 8 Jahre“ stand auf ihren handgefertigten Etiketten. In einer kleinen Dose finde ich meine Milchzähne. „Papa, man muss nicht alles aufheben“, schimpfe ich.

Vor Kurzem war mein Bruder bei mir. Er hat mich gefragt, wieso ich eigentlich noch immer die Zeichnung von Garfield aufgehängt habe, die er mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hat. „Weil ich sie mag“, antworte ich. „Und die komischen Weihnachtsmänner?“, fragt er und zeigt auf das Kartoffel-Druck-Kunstwerk meiner Nicht. „Die auch“, sage ich und lache. „Kann ich sie dann wenigstens für dich auf die gleiche Höhe hängen?“, fragt er mich und ich stimme zu.