Es fängt harmlos an. Vielleicht mit leichtem Geplänkel, kurzen E-Mails, einem abendlichen Chat. Hat ja nicht viel zu bedeuten, sagst du, sind ja nur Buchstaben zwischen zwei Bekannten, und beruhigst dein Gewissen damit, dass ja nichts passiert ist, kein Kuss, keine Umarmung, nichts. Einfach ein Cyber-Flirt, der plötzlich begonnen hat und ebenso schnell vorbei sein wird. In Zeiten von Social Networks ist das virtuelle Vernetzen mit Menschen alltäglich, da tauscht man sich eben aus, auf Facebook, Twitter, Skype, MSN, überall, doch nicht jedes Kennenlernen im Internet bleibt eine harmlose Angelegenheit, vor allem dann nicht, wenn man vielleicht in seiner Beziehung unzufrieden ist und unbewusst emotionale Defizite an anderer Stelle auffüllen will. „Das Internet senkt die Hemmschwelle zum Fremdflirten“, sagt die Paartherapeutin Felicitas Heyne. Und macht die Gefahr eines Cyber-Flirts klar: „Um die ­Beziehung zu gefährden, muss es nicht mal zu einer realen Begegnung kommen!“ Auch Ragnar Beer, Psychologe an der Universität Göttingen, schließt sich dieser Meinung an. „Es ist nicht ungewöhnlich, sich im Internet zu verlieben. Das Kennenlernen ist oft intensiver und vorurteilsfreier, weil der erste Eindruck wegfällt.“

Wo fängt der emotionale Betrug an?

In den USA als „Emotional Cheating“ bekannt, versteht man unter emotionalem Betrug einen virtuellen Seitensprung, bei dem es sowohl um große Gefühle als auch um Sex in der Fantasie gehen kann. In der Regel kommt es bei diesen gedanklichen Affären nie zu Körperkontakt, die Interaktion spielt sich in den Köpfen ab. Es ist ein Spiel mit Möglichkeiten, ein „Was wäre wenn?“, ein Abenteuer aus Distanz. Doch was anfangs prickelnd ist, kann sich zu einem Problem entwickeln: Denn das Spiel in der Fantasie mag zwar als solches empfunden werden, ist aber eine reale Beziehung, die in puncto intensiver Gefühle und erotischer Spannung dem wirklichen Seitensprung in nichts nachsteht. Entwickelt sich ein anfangs harmloses Geplänkel zu einem innigen Miteinander, tut es wenig zur Sache, ob man einander gegenübersitzt oder nur vor dem Computer oder Handy. Denn sobald sich zwei Menschen intensiv miteinander austauschen und sich nicht nur oberflächlich über ihren Alltag, sondern auch über Sorgen und vielleicht ihre erotischen Fantasien unterhalten, ist eine Grenze überschritten. Dinge, die du normalerweise nur deinem Freund erzählst, landen plötzlich bei einem Dritten. Vielleicht merkst du es anfangs nicht, aber im Laufe der Zeit ent­wickelt sich eine Eigendynamik. Wenn es beim Cyber-Flirt bleibt und nicht zum persönlichen Kontakt kommt, neigt man dazu, die Online-­Beziehung runterzuspielen. Es ist ja kein Fremdgehen, beruhigt man sich, ich bin doch treu und unterhalte mich bloß. Doch genau darin liegt die Gefahr. Ragnar Beer sagt: „Emotionale Ressourcen sind begrenzt. Je mehr Gefühle man inves­tiert, umso weniger bleiben für den Partner.“ Genau das kann dir das Genick brechen, denn gerade Frauen neigen bei Cyber-Flirts dazu, sich in ihren Gefühlen zu verstricken und sich einzureden, dass der Typ aus dem Internet der Traummann schlechthin ist – und setzen so ihren eigentlichen Partner herab. „Der Unbekannte aus dem Netz wird in der Fantasie leicht zum Traummann, gegen den der reale Partner schlechte Karten hat“, warnt Felicitas Heyne.

Schattenliebe

Doch auch, wenn es zu keinem Betrug in Form von Sex kommt, eine emotionale Affäre kann ebenso eine Beziehung zerstören wie reales Fremdgehen. Untersuchungen zeigen, dass „Emotional Cheating“ bei den Betrogenen fast die gleichen Gefühle auslöst wie ein echter Seitensprung: Zorn, Demütigung und Verletztheit. Der US-Psychologe David Buss hat in einer Umfrage Männer und Frauen befragt, was für sie schlimmer wäre: zu entdecken, dass sich der Partner in eine andere Person verliebt, oder zu entdecken, dass er Sex mit jemand anderem hatte. Das Ergebnis zeigt einen großen Unterschied in den Emotionen von Männern und Frauen: 60 Prozent der Männer gaben an, dass die sexuelle Untreue ihrer Partnerin sie mehr verletzen würde als die emotionale, während 83 Prozent der Frauen sagten, die emotionale Untreue ihres Partners wäre schlimmer als eine sexuelle Beziehung. Auch Gerti Senger hat sich mit dem Beziehungsmodell Dreiecksbeziehung befasst. In ihrem Buch „Schattenliebe“ schreibt sie über Paare und ihre „Schattenbeziehungen“. Dreiecksbeziehungen gibt es schon seit Urzeiten, sie spielen sich auf immer gleiche Weise ab: Zwei Partner leben in einer Beziehung, in die ein Dritter eindringt. Die Gründe dafür sind laut Senger vielfältig: Eintönigkeit in der Ehe, unerfüllte sexuelle Wünsche, der Reiz des Neuen, die Flucht vor der Gewohnheit – all das kann die Triebfeder für eine Dreiecksbeziehung sein.

Rettung aus dem Betrug

Doch woran erkennt man, dass ein Cyber-Flirt sich zur Gefahr für die Beziehung entwickelt hat? Um zu verstehen, was die Online-Affäre wirklich bedeutet, muss man ehrlich zu sich selbst sein und womöglich einräumen, dass man in seiner Beziehung nicht zufrieden ist. Denn jemand, der mit seinem Partner glücklich ist, wird gar nicht erst anfällig sein für einen Cyber-Flirt. Hier geht es oft darum, etwas zu kompensieren, was einem fehlt. „Das schlechte Gewissen ist ein guter Indikator dafür, dass man an eine Grenze kommt. Zu diesem Zeitpunkt sollte man mal die Folgen abwägen“, so Felicitas Heyne. Ist bereits das schlechte Gewissen da, muss man sein Verhalten unter die Lupe nehmen. Setzt du dich heimlich vor den Computer? Findest du Ausreden vor deinem Freund, warum du nachts noch unbedingt mal online gehen musst? Hast du einen geheimen Ordner, in dem seine E-Mails landen? Denkst du in schönen Momenten zuallererst, dass du mit ihm darüber reden willst – und erst dann mit deinem Freund? Treffen diese Punkte auf dich zu, hast du es nicht mit einem harmlosen Cyber-Flirt zu tun, sondern mit einer realen Beziehung, die voller Gefühle ist. Dann musst du dir klar werden, was das für dich bedeutet: ob du tatsächlich in den Kerl aus dem Netz verliebt bist und mehr von ihm willst, oder ob du deine Beziehung retten willst. In jedem Fall solltest du deinem Freund den Vorzug geben und hinterfragen, woran es bei euch hakt. Dass etwas nicht stimmt, liegt auf der Hand. Eine US-Studie belegt, dass 65 Prozent der fest liierten Befragten schon mal emotional untreu waren – offenbar ein Hilfeschrei, um sich von festgefahrenen Schienen zu befreien. Felicitas Heyne rät: „Überlegen Sie, was Ihnen der andere gibt und was Sie in der Partnerschaft vermissen.“ 

Nur wenn du offen über deine Bedürfnisse sprichst, kann sich aus deiner Cyber-Affäre vielleicht etwas Gutes entwickeln: nämlich die Chance, deinem Freund ehrlich zu sagen, was dir fehlt und welche Lücke deine Online-Affäre gefüllt hat, damit ihr dann gemeinsam daran arbeitet, dass du nie wieder online dein Herz verlierst …