In den meisten europäischen Ländern werden Schwangerschaftsabbrüche statistisch erfasst. In Österreich ist das noch nicht der Fall. Der Verein Aktion Leben fordert aber seit Jahren eine anonyme Abtreibungsstatistik und Motivforschung zu Schwangerschaftsabbrüchen.

Frauenministerin Susanne Raab und Familienministerin Christine Aschbacher haben Ende November Stellungnahmen auf der Parlamentswebsite veröffentlicht, die diese Forderung nach einer Statistik klar unterstützen. Viele Kritiker sehen in einer derartigen Erhebung aber eine Stigmatisierung von Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen. Sie sehen einen Einschnitt in das Recht auf Selbstbestimmung.

Die Frau starb, weil sie kein weiteres Kind austragen wollte

Als ich noch in die Volksschule ging, erzählte mir meine Mutter Geschichten von ihrer besten Freundin aus Kindestagen. Sie erzählte mir, wie sie immer ihr Schmalzbrot gegen das Marmeladenbrot ihrer Freundin tauschte und sie erzählte mir, dass ihre Freundin später ihre Mutter verlor, weil diese zu einer Engelmacherin ging. Meine Mutter ist 46 Jahre älter als ich und wuchs lange vor Inkrafttreten der Fristenregelung 1975 auf. Sie erklärte mir damals, dass Personen, die „Kinder wegmachten“ zu ihrer Zeit als Engelmacher bezeichnet wurden – einer Zeit, in der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe standen. Für meine Mutter war es nur eine weitere Geschichte aus ihrer Jugend. Für mich war es meine erste – wenn auch nur entfernte – Berührung mit dem Thema Abtreibung. Ich war schockiert. Die Frau starb, weil sie kein weiteres Kind austragen wollte. Und ihre Tochter wuchs ohne Mutter auf.

Die Folgen von Sex betreffen vor allem Frauen

Welche Rolle der Vater in dieser Geschichte spielte, erfuhr ich nie. Ich fragte auch nie danach. Für mich war Schwangerschaft und alles, was damit zu tun hatte, weiblich. So wurde ich älter, wuchs in einer Gesellschaft auf, die sich doch drastisch von jener aus den Kindestagen meiner Mutter unterschied. In der Schule lernte ich, wie man verhütet. Ich lernte, dass man mit Kondomen nicht nur Schwangerschaften, sondern auch sexuell übertragbaren Krankheiten vorbeugt. Man erklärte mir, welche weiteren Möglichkeiten der Empfängnisverhütung es gab. Ich lernte, dass ich in Österreich auch die Möglichkeit hatte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden – innerhalb einer gewissen Frist.

Was mir damals aber niemand erklärte: Zwar braucht es immer einen Mann und eine Frau, um ein Kind zu zeugen. Mit den Folgen von Sex müssen sich aber vor allem die Frauen auseinandersetzen. Sie haben die Verantwortung, darüber zu entscheiden, ob sie das Kind austragen wollen oder nicht. Sie müssen mit den körperlichen und psychischen Folgen umgehen. Falls sie sich dazu entscheiden, ein Kind auszutragen, sind es noch immer Frauen, die den Großteil der Kindererziehung übernehmen. Sie müssen mit den sozialen und gesellschaftlichen Folgen umgehen. Es war also nicht nur mein kindliches Hirn, das Schwangerschaften und ihre Folgen in die Sphäre des weiblichen schob. Es war die Gesellschaft, in der ich aufwuchs.

Die Verantwortung für Verhütung haben Frauen

Die Gesellschaft, in der ich aufwuchs, gab mir oberflächlich das Gefühl über mein eigenes Leben bestimmen zu können. Ich durfte studieren, was ich wollte, den Beruf wählen, den ich wollte und mit so vielen Menschen schlafen, wie ich wollte. Dinge, die für Frauen nicht immer selbstverständlich waren. Fragen, wie „hast du eigentlich endlich einen Freund?“ oder „Wann willst du denn Kinder bekommen?“ ignorierte ich ohne groß darüber nachzudenken, ob den Fortpflanzungsplänen von jungen Männern ebenso viel Interesse entgegengebracht wurde. Die Tatsache, dass mich meine Frauenärztin schief ansah, als ich mit 15 nach der Pille verlangte, ohne in einer festen Beziehung zu sein, nahm ich einfach ebenso hin wie die Tatsache, dass ich einen Großteil meines Taschengeldes für Verhütung ausgeben musste.

Die Diskussion über eine Abtreibungsstatistik

Wir schreiben das Jahr 2020. Wir leben in einer Demokratie. Frauen haben mehr Rechte als jemals zuvor. Engelmacherinnen sind ein Ding der Vergangenheit. Österreicherinnen dürfen mittlerweile im Zuge der Fristenregelung abtreiben. Bezahlen müssen sie den Abbruch selbst, sofern er nicht medizinisch begründet ist. Und dennoch ist ein Schwangerschaftsabbruch in Österreich noch immer grundsätzlich strafbar. Dem ausführenden Arzt droht laut Paragraf 96 des Strafgesetzbuches eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren, der Mutter bis zu einem Jahr. Abtreibung ist immer noch ein Tabuthema. Frauen, die abtreiben, werden immer noch stigmatisiert. „Frauenthemen“ werden von der Politik – wenn überhaupt – nur am Rande behandelt. Eine Situation, die sich durch die Pandemie noch mehr verschärft hat. „Corona überschattet momentan alles“, erklärt Michaela Kaiser, die stellvertretende Vorsitzende der Schwangerschaftsberatung ZOE und fügt hinzu: „Andere Themen werden an den Rand gedrängt“. Sie hatte aber schon davor das Gefühl, dass die Politik beim Thema Schwangerschaftsabbruch gerne wegsieht.

Umso verwunderlicher, dass Ende November plötzlich wieder die Diskussion um eine Abtreibungsstatistik in Österreich die mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Kurz vor der geplanten Behandlung der Bürgerinitiative „Fakten helfen“ des Vereins Aktion Leben sprachen sich die zwei ÖVP-Ministerinnen Susanne Raab und Christine Aschbacher für eine darin geforderte österreichweite und anonymisierte statistische Erhebung und Motivforschung zu Schwangerschaftsabbrüchen aus. „Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch ein Tabuthema, weshalb es von Interesse ist, mehr über Motive und Gründe, die sich dahinter verbergen, in Erfahrung zu bringen, um Frauen in dieser Konfliktsituation besser unterstützen und begleiten zu können“, heißt es in den Stellungnahmen von Frauen- sowie Familienministerium. In Österreich gibt es bisher keine landesweite Abtreibungsstatistik wie etwa in Deutschland oder der Schweiz. Zahlen werden nur bei Spätabbrüchen erhoben. Denn sobald es einen medizinischen Grund für eine Abtreibung gibt, wird diese von den Krankenkassen bezahlt. Und dann werden auch Daten erhoben.

Kritik an „Fakten helfen“

Die Bürgerinitiative ist nicht neu. Seit Jahren sammelt die Schwangerschaftsberatung Aktion Leben dafür Unterschriften. „Wir arbeiten schon sehr lange an diesem Thema. Unsere Bürgerinitiative haben wir 2014 gestartet“, erklärt Martina Kronthaler, die Generalsekretärin von Aktion Leben. Ziel ist es, durch Fakten bessere Präventionsmaßnahmen in Österreich setzten zu können und dadurch die Zahl der Abtreibungen zu reduzieren. „Keine Frau hat am Wunschzettel ihres Lebens stehen, einmal in diese Situation zu kommen“, so Kronthaler. Doch es gibt auch zahlreiche Stimmen, die sich gegen die Forderung der Bürgerinitiative aussprechen. Meri Disoski, Frauensprecherin der Grünen sieht in der Forderung einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen.

Kritisiert wird auch immer wieder die Nähe des Schwangerschaftsberatungsvereins Aktion Leben zur katholischen Kirche, insbesondere zur Bischofskonferenz. „Aktion Leben ist sozusagen der verlängerte Arm der Bischofskonferenz“, sagt auch Christian Fiala, Leiter des Gynmed Ambulatoriums für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung. Er ist seit Jahren einer der größten Kritiker der Bürgerinitiative „Fakten helfen“. „Es gibt seit Jahrzehnten Unmengen an Publikationen – in Österreich wie auch international – von Fachkräften, die Frauen betreuen. Das wird aber ignoriert“, so Fiala und fügt hinzu: „Seit über 15 Jahren haben wir und andere Fachkräfte ganz klare Forderungen, wie die Betreuung verbessert werden soll und wie die Prävention verbessert werden soll“. Die Politik ignoriere diese Forderungen allerdings.

Zahlen oder keine Zahlen

Von der Politik nicht gehört, fühlt sich auf Martina Kronthaler von Aktion Leben. Sie erhofft sich durch eine Abtreibungsstatistik mehr politisches Interesse an Schwangerschaftsabbrüchen. „Um evidenzbasierte Politik machen zu können, müssen wir wissen, wo wir stehen“, so Kronthaler. Die Frauen, die in die Schwangerschaftsberatung kämen, fühlen sich alleine gelassen. Dass eine Erhebung von Zahlen helfen könnte, glaubt auch Michaela Kaiser von ZOE. „Möglicherweise hilft es, wenn man Politiker mit Zahlen konfrontiert. Dann sind sie vielleicht eher in der Lage, zu reagieren“. „Man kann nur dann, Maßnahmen setzen, wenn man überhaupt erst einmal die Zahlen kennt“ erklärt sie.

Dass man die Zahlen kennt, behauptet aber nicht nur Christian Fiala vom Gynmed-Ambulatorium. In einer Stellungnahme der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung, heißt es etwa:

Die Motive der Frauen und Paare, die sich gegen die Fortführung einer Schwangerschaft entscheiden, sind bereits bekannt. Diverse nationale Studien und eine deutsche Studie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass vor allem partnerschafts-, berufs- und ausbildungsbezogene sowie finanzielle Motive Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen.

Stellungnahme der ÖGF zur Bürgerinitiative betreffend „bundesweite anonymisierte Statistik über Schwangerschaftsabbrüche und die anonyme Erforschung der Motive dafür“

Abwicklung über die Krankenkasse

Laut Dr. Christian Fiala wäre eine statistische Erhebung nach der Fristenlösung erst dann machbar, wenn die Abbrüche von der Krankenkasse gezahlt würden. „Wir müssen das nur so machen, wie andere Länder in Westeuropa. Und zwar endlich nach 50 Jahren den Frauen auch die Kosten für den Schwangerschaftsabbruch nach der Fristenlösung zu erstatten. Und das über die Krankenkasse abzuwickeln. Dann wäre der Aufwand geringer.“

Ein Argument, dass für Martina Kronthaler unverständlich ist: „In Deutschland werden Schwangerschaftsabbrüche nur bei sozialer Indikation bezahlt“. Sie sieht in der Frage nach einer Statistik und in der Frage nach der Abtreibung auf Krankenschein zwei unterschiedliche Themen. „Wenn ich das mit den Gesundheitsdaten der Frau verknüpfe ist es schwierig, die Anonymität der Frau zu gewährleisten. In der Schweiz werden Abbrüche zwar manchmal bezahlt, aber da läuft die Statistik ebenfalls auf einer anderen Meldeschiene“.

Wenn man aber eine Meldepflicht einführen würde und Abtreibungen gleichzeitig weiterhin private medizinische Leistungen blieben, fürchtet Dr. Christian Fiala eine hohe Dunkelziffer und somit nicht aussagekräftige Zahlen.

Das Problem liegt in unserer Gesellschaft

Unterstützer wie Kritiker der Bürgerinitiative sind sich allerdings in wesentlichen Punkten einig: Die Politik scheint beim Thema Abtreibung und Prävention ein taubes Ohr zu haben. Frauen müssen besser unterstützt werden. Ungewollte Schwangerschaften sollten so gut es geht, verhindert werden. Umso absurder scheint die Diskussion um eine Abtreibungsstatistik. Wir sollten uns nicht die Frage stellen, ob es ausreichend Zahlen und Daten zu Schwangerschaftsabbrüchen gibt. Wir sollten schon viel früher ansetzen und uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben. Wieso schreibt die Gesellschaft Frauen durch finanzielle und bürokratische Hürden noch immer vor, wann und wie sie Kinder bekommen. Eine Statistik wird nichts daran ändern, wie viele ungewollte Schwangerschaften es gibt. Das können nur Präventionsmaßnahmen wie Aufklärung und Zugang zu Verhütungsmittel.

Um ein Kind zu zeugen, braucht es eine Frau und einen Mann. Dennoch sind es weiterhin Frauen, die die Folgen tragen. Es sind Frauen, die sich, um die Kosten einer Abtreibung Gedanken machen müssen. Es sind auch Frauen, die das Kind austragen und aufgrund des Gender-Pay-Gaps sind es noch immer vor allem Frauen, die mit dem Kind zu Hause bleiben. Alleine während der Corona-Pandemie zeigte sich, wie ungerecht unbezahlte Arbeit noch immer aufgeteilt ist. Laut einem UNO-Bericht kümmern sich dreimal mehr Frauen als Männer um den Haushalt. Aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen setzen Frauen immer noch ihre Karriere aufs Spiel, wenn sie mit der Familienplanung beginnen.

Was Frauen mit ihrem Körper machen, wird immer noch diktiert

Ein Kind in die Welt zu setzen ist eine große Verantwortung, mit der Frauen von unserer Gesellschaft 2020 noch immer alleine gelassen werden. Es scheint, als würde unsere Gesellschaft einfach darauf vertrauen, dass jede Frau, egal ob gewollt oder ungewollt schwanger, ein Kind großziehen kann. Unsere Gesellschaft traut Frauen hingegen nicht zu, verantwortungsbewusst mit kostenloser Verhütung umzugehen. Und unsere Gesellschaft traut Frauen auch nicht zu, verantwortungsbewusst mit von der Krankenkasse bezahlten Schwangerschaftsabbrüchen umzugehen. Bevor man also überlegt eine Statistik zu erheben, sollte man sich vielleicht Gedanken darüber machen, wieso man Frauen noch immer diktiert, wie sie mit ihrer Fruchtbarkeit umzugehen haben.