Es wirkt wie ein normales Interview – sogar noch sehr viel entspannter.
Das zwischen zwei Tassen Melange platzierte Aufnahmegerät scheint vergessen. Marlies sitzt frontal zur Eingangstür und hat scheinbar den ganzen Raum im Überblick. Sie lacht, ist offen und gesprächig …
… bis sich plötzlich die Fingerkuppen von Marlies’ rechter Hand fest auf den Handrücken ihrer Linken pressen und ihre Augen angespannt den Raum scannen. „Das mache ich nur, wenn ich nervös bin“, sagt Marlies und lächelt verlegen. Die Nervosität ist ihr ins Gesicht geschrieben, ihre Augen werden größer und ihr Oberkörper nimmt eine defensive Haltung ein. Sichtlich angespannt rutscht sie auf dem Stuhl hin und her.

Der Grund: Ein Mitarbeiter des Café Siebenstern durchquert forschen Schrittes den extra für das Treffen reservierten Raum und verschwindet am anderen Ende durch die Türe ins Getränkelager. Situationen wie diese scheinbar unspannende Begebenheit sind für Marlies eine Herausforderung: „Ich habe Angst vor Situationen, die ich nicht kenne und auf die ich mich nicht  vorbereiten kann. Es macht mich nervös, wenn ich eiskalt erwischt werde. Er kam einfach in den Raum, ohne dass ich vorher davon wusste. Wie reagiert man da?“ In dem Fall ist die Reaktion eine kurze Pause des Interviews. Durchschnaufen und am Glas Wasser nippen, das sie mit beiden Händen fest umklammert.

Autismus, was ist das?

Marlies ist Autistin. Das Spektrum des Autismus ist ein breites, und kein Autist gleicht einem anderen: Es gibt jene, die man aus klassischen Vorurteilen kennt, die nicht oder nur sehr wenig sprechen, bis hin zu den in den Medien oft dargestellten Klischees à la Sheldon Cooper aus The
Big Bang Theory.

Eines haben aber alle Autisten gemeinsam: „Wir haben Probleme mit der sozialen Interaktion und können nicht so gut mit Menschen“, erklärt Marlies. Was bedeutet das genau? Autisten haben andere neurologische Gegebenheiten, das Gehirn ist anders vernetzt. „Man muss sich das Gehirn als Computer vorstellen. Auf der Gehirnfestplatte der neurotypischen Menschen (Anm.: Menschen ohne Autismus) läuft Windows. Das hat zwar ein paar Bugs, läuft aber grundsätzlich sehr zuverlässig. Bei autistischen Menschen hingegen läuft Linux. Da muss man Vorkenntnisse haben, einige Dinge umprogrammieren und ständig dazulernen. Es müssen vorab für andere Menschen als logisch angesehene Programmierarbeiten geleistet werden, bevor die Sache läuft“, macht Marlies die Thematik greifbar. Zu dieser logischen Programmierarbeit zählen Dinge wie die Mimik oder Gestik des Gegenübers zu deuten, das heißt: Alles, was auf der reinen Informationsebene passiert, verstehen Autisten super.

„Alles, was im Subtext, also im Nonverbalen mitschwingt, macht uns Probleme. Ich sehe beispielsweise, dass du mich während des Gesprächs ansiehst, habe aber keine Ahnung, ob du interessiert, konzentriert oder angewidert bist. Dein Gesicht macht Dinge, aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Da steckt kein Schema dahinter.“ Durch das Zwischen-den-Zeilen-Kommunizieren, mitschwingende ­Ironie oder offensichtliche Übertreibung in der zwischenmenschlichen Kommunikation von neurotypischen Menschen erschließt sich für Autisten, die eine sehr klare und deutliche Sprache brauchen, keine Logik.

„Neurotypische Menschen handeln so furchtbar unlogisch! Man fragt eine Person, wie es ihr geht, und die Person sagt: ‚Gut’. Bei mir kommt ‚gut’ an und ich freue mich. Dabei hat mein Gegenüber im Subtext und durch Stimmung vielleicht transportiert: ‚Mir geht es nicht so gut, ich traue mich das aber nicht zu sagen. Bitte frag nach!’ Und genau diese Message kommt bei mir nicht an. Das macht Kommunikation so kompliziert und Leute sind oft sauer“, verleiht sie ihren Gedanken Ausdruck.

Alltag als Autistin

Weil Alltagskommunikation für Menschen wie Marlies sehr viel anstrengender zu verarbeiten ist, spielen ein geregelter Tages­ablauf, Struktur und Ordnung für sie eine enorm große Rolle: „Alles muss geplant sein, ich muss mich vorbereiten können. Ich brauche für alles eine Liste. Alleine für den heutigen Tag habe ich mehrere – welche Termine habe ich wann, was mache ich davor, was mache ich danach. Und ich bin superordentlich. Weil ich eben nicht so gut mit Menschen kann, habe ich selten Besuch, aber angenommen, ich habe von einer bis maximal zwei Personen Besuch und jemand nimmt ein Buch aus dem Regal und stellt es später nicht mehr genau dorthin zurück: Das stresst mich. Es stört meine Ordnung.“

Was wie eine Kleinigkeit klingt, ist von großer Bedeutung: Wenn der Alltag durchgeplant ist, bleibt dem Gehirn mehr Kapazität für zwischenmenschliche Kommunikation, die nicht nur aufgrund der Mimik und Gestik für Autisten schwer zu deuten ist, sondern auch aufgrund der anders strukturierten Reizfilter im Gehirn. Autistische Menschen haben sehr empfindliche Filter, was bedeutet, dass das Gehirn gewisse Reize wie zum Beispiel Hintergrundgeräusche nicht einfach ausblenden kann.

„Mir macht es beispielsweise überhaupt keinen Spaß, in einem Café zu sitzen und mich mit fünf Leuten zu unterhalten, weil mich das überfordert. Wer sagt was? Wann spricht wer? Wem höre ich zu? Wann bin ich dran? Wie filtere ich die Stimmen aus der Lärmwand raus? Welche Geräusche sind Teil des Gesprächs und welche nicht?“ – das sind nur einige der vielen Fragen, die dabei durch Marlies’ Kopf schwirren.

Gebrauchsanweisung: Alltag

Alltagshürden wie diese erschweren Autisten die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen. Zudem kommt die sogenannte Gesichtsblindheit, die nicht bei allen Autisten wie bei Marlies auftritt. Das bedeutet, dass Gesichter schwer im Gedächtnis bleiben und daher an Orte und Erfahrungen geknüpft werden. „Ich sehe Augen, Nase und Mund, kann aber keinen Zusammenhang daraus basteln. Wenn ich weiß, dass ich dich vorzugsweise im Café Siebenstern treffe und du immer diesen schwarzen Pullover wie heute trägst, dann könnte ich das hinkriegen. Würden wir uns in ein paar Stunden in einem anderen Bezirk treffen, hättest du keine Chance, dass ich dich wiedererkenne“, sagt Marlies verlegen und lacht.

Für soziale Interaktion gibt es nunmal keine Schemata. Vieles passiert spontan – und genau das ist das Problem: „Ich kann nicht spontan sein. Wie lernt man Leute kennen? Bei Neurotypischen passiert das immer irgendwie, man kommt ins Gespräch. Aber wie geht das? Kann ich hierfür eine Anleitung haben, bitte?“,  erklärt Marlies mit unüberhörbar zynischem Unterton, den sie bei anderen Menschen nicht als solchen wahrnehmen könnte. Weil Autisten auch Lügen, die sich eben durch nonverbale Kommunikation als Unwahrheiten erkennen lassen, nicht filtern können, hat Marlies in puncto Freundschaft einen Pool an schlechten Erfahrungen gesammelt. Um das zu verhindern, braucht es klare Worte: „Tatsächlich frage ich eine Person irgendwann, ob wir jetzt Freunde sind. Woher sollte ich das sonst wissen? Wenn die Person Ja sagt, dann halte ich den Status so lange, bis man mir sagt: ,Wir sind jetzt keine Freunde mehr‘. So kapiere ich das.“

Weil Kommunikation trotz klarer Worte für Autisten eine Herausforderung ist, weicht sie gerne auf schriftliche Verständigung aus: „Es kommt vor, dass ich meinem Freund eine SMS schreibe, obwohl wir im selben Raum sind – einfach, weil ich es in dem Moment verbal nicht ausdrücken kann. So habe ich genug Zeit, zu überlegen und meine Gedanken zu strukturieren.“

Schluss mit Klischees

Eines ist sicher: Autisten sind anders, aber ganz  sicher nicht schlechter. Der Begriff hat sich durch verzerrte Berichterstattung in den Köpfen als Schimpfwort manifestiert. Politiker wie Putin  wurden in der Vergangenheit in den Medien als autistisch bezeichnet. Das Adjektiv wird medial benutzt, um Menschen als gefühlskalt oder ignorant darzustellen. „Das stimmt nicht! Autismus ist kein Schimpfwort, sondern eine Diagnose.“ Und obwohl von einer Diagnose die Rede ist, ist die Abgrenzung zum Begriff der Krankheit wichtig, denn „eine Krankheit erwirbt man und hat damit zumindest Aussicht auf Heilung. Autismus hingegen ist angelegt, vererbbar und wird als tief greifende Entwicklungsstörung und damit als seelische Behinderung klassifiziert.“

Die Diagnose, die Marlies im Alter von 27 Jahren erhielt, ist auf mehreren Ebenen wichtig: „Man kann sich eine Schwerbehinderung anerkennen lassen und zum Beispiel als Student Prüfungen in separaten Räumen schreiben. In Deutschland bekommt man im Gegensatz zu Österreich jemanden zur Seite gestellt, der einem bei der Alltagskommunikation mit Ämtern und dergleichen weiterhilft“, weiß die gebürtige Deutsche, die noch heuer nach Wien übersiedeln will. Schon der Schritt zur Diagnose ist hierzulande allerdings von Stolpersteinen geprägt: Zwar ist die Autismus-Diagnose eine Kassenleistung, jedoch gibt es praktisch keine Krankenkassen-Anbieter. Oft führt infolgedessen kein Weg an einem Diagnoseanbieter für Selbstzahler vorbei, bei dem sich ebendiese auf ca. € 500 beläuft.

Next stop: Therapie?

Autisten neigen nachgewiesen eher zu Depressionen und die Suizidrate ist 2,5 mal so hoch wie bei Neurotypischen. Daher bedarf es in manchen Fällen einer Therapie, die aber nicht darauf abzielen soll, Autisten möglichst neuro­typisch erscheinen zu lassen. Das ist nicht nur schädlich, sondern auch traumatisierend und wird trotzdem in Deutschland und Österreich so durchgeführt: „Es gibt nach wie vor Therapieangebote aus den 50ern, die nur aus Drill bestehen. Autistische Kinder werden so lange gedrillt, bis sie auf Befehle reagieren. Ein Autist kann nicht neurotypisch spielen, das funktioniert nicht. Wir werden in Schemata gepresst, in die wir nicht passen. Auch ich habe vor meiner Diagnose versucht, mich anzupassen, weil ich nicht wusste, was mit mir los war. ,Du musst dir bloß mehr Mühe geben‘, wurde mir immer gesagt“, erinnert sich Marlies und weiß: „Wenn Therapie nötig ist, dann bei Erwachsenen in Form von Traumaverarbeitung; Kinder hingegen brauchen Lebenshilfe, sprich: Wie komme ich durch den Alltag?“

Denn genau dieser ist für autistische Menschen wegen der benötigten Gehirnkapazität in hohem Maße anstrengender. Nach einem Indie-Konzert – eine Aktivität, auf die Marlies nicht verzichtet – braucht sie mehrere Tage Entspannung. „Wenn ich den Alltag verarbeiten muss, ziehe ich mich zurück und lese über Dinge, die mich interessieren– wie etwa Kunst.“ Ebendiese Interessen werden am heimischen Arbeitsmarkt oft unterschätzt. In Österreich leben ca. 80.000 Menschen mit Autismus, etwa 80 % davon sind arbeitslos – obwohl Autisten großes Potenzial haben: „Wenn uns etwas interessiert, können wir innerhalb kürzester Zeit Experten auf dem Gebiet werden und Wissen förmlich aufsaugen.“ Zwar gibt es Unternehmen wie etwa Specialisterne, die sich dieser Thematik widmen und autistische Menschen mit Unternehmen zusammenführen – dennoch „müsste sich in
Österreich noch viel mehr in diese Richtung tun. Hilfe für den Berufseinstieg ist wichtig“, kritisiert Marlies die aktuelle Lage.

Das Gespräch beendet sie aber positiv – mit einem Wunsch, dem wir uns gerne anschließen: „Egal ob Autist oder nicht: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen einander vorurteilsfrei gegenübertreten“, sagt sie bescheiden, während sie auf ihrer Liste den Punkt „Interview Magazin miss“ lächelnd abhakt.

 

Was ist …

Autismus?

Es handelt sich um eine andersartige Weltwahrnehmung aufgrund von anderen Gehirnvernetzungen. Rund 1 % aller Menschen sind autistisch, etwa 46 % davon verfügen laut einer Studie des Center for Disease Control and Prevention über eine normale oder überdurchschnittliche
Intelligenz. Aktuelle Studien zu Autismus im Erwachsenenalter gibt es kaum, auch österreichische Daten fehlen, aber fest steht: Männer werden häufiger diagnostiziert als Frauen, weil Frauen in unserer Gesellschaft (leider) eher als ruhig oder schüchtern eingestuft werden. Aber auch das verändert sich: Früher ging man von einer Quote von 1:8 aus, heute ist es mittlerweile 1:4.

Asperger-Syndrom?

Asperger ist eine Autismusspektrumsstörung. Beeinträchtigt ist auch hier vor allem die Fähigkeit, nichtsprachliche Signale zu deuten, weshalb
Menschen mit Asperger-Syndrom oft als leicht wunderlich wahrgenommen werden. Weil Asperger von der Außenwelt als weniger auffällig wahrgenommen wird, wird es fälschlicherweise oft als „milde“ Form des Autismus betitelt, was nicht nur falsch, sondern auch diskriminierend ist.