„Lang lebe die Frauensolidarität“: Das konnte man am 5. August auf zahlreichen Plakaten von Demonstrantinnen in Istanbul lesen. Türkische Frauen gingen auf die Straße, um gegen häusliche Gewalt zu protestieren.

Genauer gesagt protestierten sie gegen einen möglichen Rückzug der türkischen Regierung aus einem internationalen Abkommen gegen häusliche Gewalt.

Tausende Frauen bei Protesten gegen häusliche Gewalt

Tausende Frauen protestieren seit Juli in der Türkei gegen einen möglichen Rückzug der Regierung aus einem internationalen Abkommen gegen häusliche Gewalt. In Istanbul hielten die Frauen am 5. August Plakate mit der Aufschrift „Lang lebe die Frauen-Solidarität“ in die Höhe. Auch in den Städten Ankara, Adana und Antalya kam es zu Protesten. In Izmir soll die Polizei Berichten zufolge zehn Frauen festgenommen haben.

Die sogenannte Istanbul-Konvention des Europarats aus dem Jahr 2011 ist das weltweit erste verbindliche Abkommen gegen Gewalt an Frauen – von Vergewaltigung in der Ehe bis zu weiblichen Genitalverstümmelung. Mitglieder der türkischen Regierungspartei AKP hatten das Abkommen im Juli als „falsch“ bezeichnet und einen möglichen Austritt angedeutet. Bereits seit Jahren werfen Frauenrechtsorganisationen den türkischen Behörden vor, das Gesetz 6.284, das nach dem Abkommen durch die Türkei im Jahr 2012 erlassen worden war, nicht umzusetzen. Damit seien Frauen oft schutzlos gegenüber Gewalt durch ihre Partner, Ehemänner oder Verwandten.

Konservative Gruppen im Land behaupten, das Gesetz gegen häusliche Gewalt würde Homosexualität fördern und die Einheit türkischer Familien „zerstören“.

Mord an Studentin

Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei weit verbreitet. Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass mehr als 40 Prozent der türkischen Frauen häusliche Gewalt erlebt haben. Beobachter führen die Zunahme an Gewalt gegen Frauen auf die Politik der Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurück. Zwar hatte Erdogan 2003 sogenannte Ehrenmorde stärker unter Strafe gestellt und das Familienstrafrecht liberalisiert. Zugleich wuchs unter seiner Regierung aber auch der Einfluss ultrareligiöser Prediger.

Der Mord an der 27-jährigen Studentin Pinar Gültekin befeuerte die aktuellen Demonstrationen zusätzlich. Die Studentin verschwand am 16. Juli. Am 21. Juli fand man ihre Leiche. Die Frau aus der südwestlichen Provinz Mugla wurde offenbar von ihrem Ex-Freund im Streit verprügelt und anschließend erwürgt. Dann habe er versucht, die Leiche in einem nahegelegenen Waldstück zu verbrennen, wie die Polizei berichtete. Als das misslang, habe er die Leiche in einer Mülltonne versteckt und mit Beton übergossen. Die Polizei konnte ihn dank Überwachungsbildern einer Tankstelle überführen.  

Auch Polen will aus Übereinkommen gegen häusliche Gewalt aussteigen

Nicht nur die Türkei, auch Polen hat angekündigt, aus der Istanbul-Konvention aussteigen zu wollen. Justizminister Zbigniew Ziobro kündigte nach Informationen der Nachrichtenagentur PAP an, dem zuständigen Familienministerium einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten. Die Konvention enthalte Bestimmungen „ideologischer Natur“, die er nicht akzeptieren könne und für schädlich halte. Der Europarat, eine paneuropäische Organisation mit 47 Mitgliedstaaten, die das Abkommen gründete, nannte den Vorstoß des Justizministers alarmierend.

Das genau Polen und die Türkei das Abkommen aufkündigen wollen, ist nicht überraschend. Beide Länder machen, vermutlich auch um traditionsverhaftete Wählerkreise besser zu erreichen, geltend, das Abkommen verfolge nicht nur den Zweck, Gewalt gegen Frauen zurückzudrängen, vielmehr werde versteckt das Ziel der Gleichstellung von homo- und transsexuellen Partnerschaften angestrebt.

Was steht in der Istanbul-Konvention?

Die Istanbul-Konvention ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Auf der Grundlage des 2011 ausgearbeiteten Vertrag soll Gewalt an Frauen sowie häusliche Gewalt bekämpft werden. Das Übereinkommen trat am 1. August 2014 in Kraft. Es schreibt zudem die Verankerung der Geschlechter-Gleichstellung in den Verfassungen der Unterzeichnerstaaten vor. Sämtliche diskriminierende Vorschriften müssten demnach abgeschafft werden. Der Vertrag sieht zudem erweiterte Hilfsangebote für Frauen vor.

Bis März 2020 haben 46 Staaten das Übereinkommen unterzeichnet. 34 haben es ratifiziert, also in Kraft gesetzt. Das türkische Parlament war übrigens das erste der Unterzeichnerstaaten, das den Vertrag am 14. März 2012 ratifizierte. Österreich ratifizierte das Übereinkommen übrigens am 14. November 2013 und Deutschland am 12. Oktober 2017.