Bei Discovering Hands ist der Name Programm: Blinde und Sehbehinderte nutzen ihre besonderen taktilen Fähigkeiten für Tastuntersuchungen an der Brust. Macht Sinn, oder? Jetzt muss nur noch das Berufsbild geschaffen werden, sodass eine vermeintliche Behinderung auch  ganz offiziell zu einer Begabung wird. 

„Ja, hallo! Ihr seid schon richtig hier. Hereinspaziert!“, schallt es aus dem Raum ganz hinten rechts im Brustzentrum der Privatklinik Döbling. Da fühlt man sich trotz Krankenhausatmosphäre gleich wohl. Zugegebenermaßen kam die Begrüßung quer über den Gang aber etwas überraschend, sind wir doch im Rahmen des Projekts Discove­ring Hands mit einer blinden (!) oder sehbehinderten Tastuntersucherin verabredet. „Ich bin nur zu 90 Prozent sehbehindert. Mit dem linken Auge sehe ich gar nichts, aber mit dem rechten Auge schon“, kommentiert Jacqueline die erstaunten Blicke mit einem Lächeln. Sie kenne das, versichert sie, und nimmt einem gleich das schlechte Gefühl, noch bevor ihr eigentlicher Job beginnt: Jacqueline ist eine von vier Tastuntersucherinnen, die gerade Teil einer Studie von Discovering Hands sind, die versucht, zu beweisen, dass Brusttastunter­suchungen durch Blinde und Sehbehinderte nicht nur Sinn ergeben, sondern mindestens genauso gut sind wie die von Ärzten und Ärztinnen durch­geführten Tastuntersuchungen.

Bewusstsein schaffen

Die Idee kommt vom deutschen Gynäkologen Dr. Frank Hoffmann, der in seiner täglichen Praxis immer nur sehr wenig Zeit für die Brust­tast­untersuchung hatte. Das hat ihn beschäftigt, weil es ihm nicht genug war, den Damen zu sagen: „Soweit ich das sehen kann, ist alles okay.“ Er überlegte dann, ob er das nicht an jemanden, der sich mehr Zeit nehmen könnte, delegieren könne. Weiters dachte er nach, ob das jemand sein könne, der besondere taktile Fähigkeiten hat. „Dass Menschen mit Sehbehinderung besondere taktile Fähigkeiten besitzen, geht aus zahlreichen wissenschaftlichen ­Studien hervor“, weiß Marisa Mühlböck, Geschäftsführerin von Discovering Hands Österreich, die auch extra in die Privatklinik Döbling gekommen ist, um von den Hintergründen des Projekts zu erzählen. 2006 wurde die Idee zu Brusttastuntersuchungen durch Blinde und Sehbehinderte konkret. Durch einen Auftritt in der Investmentshow „2 Minuten, 2 Millionen“ durch den Initiator Dr. Frank Hoffmann sollte Discovering Hands ein paar Jahre später auch nach Österreich kommen. Investor Michael Altrichter kam im Zuge der Expansion nach Österreich auf Marisa Mühlböck zu, die das Projekt ohnehin schon zuvor auf dem Schirm hatte – schließlich hatte sie sich schon während ihres Studiums immer gefragt, wie sie Wirtschaft und Soziales sinnvoll miteinander verbinden könne.

Discovering Hands in Österreich

Die Antwort ist Discovering Hands’ erste Länderzentrale außerhalb Deutschlands – mit dem Ziel, auch hier das Berufsbild der blinden oder seh­behinderten taktilen Untersucherin zu etablieren, denn: „Wir haben in Österreich andere gesetzliche Rahmenbedingungen als in Deutschland. In Deutschland darf ein Gynäkologe so eine Untersuchung an jemand anderen delegieren. In Österreich haben wir einen sehr streng ausgelegten Ärztevorbehalt. Wir haben jetzt vom Gesundheitsministerium die Genehmigung bekommen, ein Studienprojekt durchzuführen“, erklärt die Geschäftsführerin den Stand der Dinge. Der Plan ist, anhand von 1.000 Teilnehmerinnen die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Brustabtastung durch Blinde und Sehbehinderte zu belegen und so das Berufsbild zu etablieren. „Aktuell haben wir unge­fähr die Hälfte. Am Ende können wir dann auswerten und mit diesen Daten mit dem Ministerium über das Berufsbild weitersprechen“, weiß Marisa Mühlböck. Aus ebendiesem Berufsbild ergebe sich ein doppelter sozialer Mehrwert, wie Marisa weiter erläutert: „Auf der einen Seite wird aus einer Behinderung eine Begabung, die sogar Leben retten kann. Auf der anderen Seite wird für Menschen mit Sehbehinderung, die es sonst schwer haben, am Arbeitsmarkt einen nachhaltigen Job zu finden, ein Arbeitplatz geschaffen. Der Mehrwert liegt also auf der Hand. Schließlich reden wir von einem sehr emotionalen Thema; es sind viele Ängste, Stress­situationen und Emotionen wie Schamgefühl bei der Ab­tastung involviert. Es ist eine sehr intime ­Situation, und es hat sich herausgestellt, dass es großen Mehrwert bietet, wenn da von Frau zu Frau etwas gemacht wird.“

Berufsbild etablieren

Diesen Vorteil – und auch jenen durch die Sehbehinderung – kann Tasterin ­Jacqueline aus der Praxis bestätigen: „Manchmal kommen Frauen, deren erste Frage ist: ‚Sind Sie blind?‘ Dann kläre ich über ­meine Sehbehinderung auf. Viele Frauen sind auch schüchtern, da ist es angenehmer, wenn eine Frau abtastet – das kenne ich ganz besonders von meiner Heimat oder von arabischen Frauen“, erzählt die gebürtige Ägypterin. „Generell ist es für viele einfach auf diese Art angenehmer.“ Eine Aussage, die sich beim Ausprobieren des Services bestätigt: Jacqueline weiß, Frauen vor der Tast­untersuchung die Ängste zu nehmen. Nachdem das Infoblatt ausgefüllt ­wurde, erklärt Jacqueline oder eine ihrer drei Kolleginnen genau, wie die Untersuchung abläuft. Am Dummy, den das Team Ilse getauft hat, wird demonstriert: „Die Brust wird durch spezielle Klebebänder in vier Zonen unterteilt. Die haptischen Punkte und Abteilungen in einzelne Zentimeter auf dem Band geben mir oder meinen ­blinden Kolleginnen Auskunft darüber, wo auf der Brust wir uns gerade befinden, sodass wir genau dokumentieren können, wo wir etwas spüren.“ Nach dem Gespräch und dem Vertrautwerden folgen eine orientierende Untersuchung und ein Abchecken der Lymphknoten im Sitzen, danach werden im Liegen die eben genannten Streifen aufgeklebt und die Brust abgetastet. Erst wenn Jacqueline ihre Erkenntnisse mittels Zoomtext in den Computer übertragen hat (da ihre Sehstärke für gewöhnliche Computerarbeit nicht ausreicht), kommt ein Arzt oder eine Ärztin hinzu. Im Sinne der Initiatoren der Studie wäre es dann positiv, wenn diese/r zum gleichen Ergebnis wie Jacqueline kommt bzw. wenn die Bildgebung Jacqueline in ihrem Ergebnis bestätigt, um die Sinnhaftigkeit dieses Berufsbildes für Blinde und Sehbehinderte zu beweisen.

Univ.-Doz. Dr. Michael Medl, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, sieht keinen Grund, warum das nicht klappen sollte: „Die Knötchen, die die Damen ertasten können – wovon ich mich schon selbst überzeugen konnte –, gehen in den Bereich von wenigen Millimetern.“ Das ist allerdings nicht nur auf die Sehbehinderung, sondern auch auf eine gezielte Ausbildung für Jacqueline und ihre Kolleginnen zurückzuführen, denn „mir war nicht bewusst, dass ich besser tasten kann als andere. Jetzt weiß ich, dass eine Sehbehinderung auch zu einer Begabung werden kann“, erzählt Jacqueline, die die einjährige Ausbildung zuerst gar nicht beginnen wollte: Als zu gering hatte sie sich mit Deutsch als Fremdsprache ihre Chancen in einem medizinischen Umfeld ausgerechnet. Im Gespräch merkt man aber schnell, dass Jacqueline hin und wieder zum Tiefstapeln neigt: Ihr in Ägypten abgeschlossenes Soziologiestudium verschweigt sie schon fast, und bezüglich ihrer Noten bei der Abschlussprüfung muss Marisa Mühlböck schon fast ­unterbrechen: „Jacqueline war eine Musterschülerin und ihre Noten sehr gut.“ Jacqueline muss schmunzeln. Nie hätte sie sich gedacht, dass sie im medizinischen Bereich tätig sein, Frauen helfen und dabei Bewusstsein für ein so wichtiges Thema wie Brustgesundheit schaffen könnte – denn nach Etablierung des Berufsbildes ist das langfris­tige Ziel, „das Bewusstsein bei allen Frauen in Österreich zu erhöhen“, so Geschäftsführerin Marisa Mühlböck. Univ.-Doz. Dr. Medl kann sich dem nur anschließen: „Das ist in Ergänzung zu den etablierten Untersuchungen wie Mammografie eine tolle zusätzliche Methode.“

Studienteilnehmerinnen für „Discovering Hands“ gesucht

Für die Studie sind aktuell Frauen ab 40 Jahren gesucht, aber wenn das Berufsbild etabliert ist, „kann man durchaus ab dem 25. oder 30. Lebensjahr schon beginnen – je nach individuellem Risiko natürlich. Untersuchungen in jüngeren Jahren tragen außerdem zum langfristigen Ziel, das Bewusstsein zu stärken, bei“, klärt Medl auf. Dieses sei in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern zwar durchaus gut, könnte aber noch deutlich verbessert werden, damit Jacqueline langfristig in dem Beruf tätig sein kann: „Ja, das wünsche ich mir! Ich bin sehr froh mit meinem Team und hoffe, dass mein Beruf nach dem Fertigstellen der Studie anerkannt wird.“ Damit es kein Claim bleibt, dass aus einer Behinderung eine Begabung wird – sondern schon hoffentlich bald ein Berufsbild. Und diesmal gilt: kein Grund, tiefzustapeln, denn was man nach der Vorsorgeuntersuchung bei Jacqueline weiß, ist, dass man bei ihr (nicht nur sprichwörtlich gesagt) in besten Händen ist.

Alle Infos findet ihr unter www.discovering-hands.at