Die neue Netflix Doku „Depp v. Heard“ rollt den Prozess zwischen Johnny Depp gegen Amber Heard erneut auf. Ein Fall, von dem wohl die meisten von uns denken, schon alles gesehen zu haben. Dabei sollten sich genau diese Menschen die Doku noch einmal genau ansehen.

Denn ein Jahr nach dem Prozess bietet sie eine dringend benötigte Perspektive zu dem Fall.

„Depp v. Heard“ rollt Fall erneut auf

Wer im vergangenen Sommer auf irgendeiner Medienseite oder den Sozialen Medien unterwegs war, kam an einem Thema nicht vorbei: dem Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard. Denn von 11. April bis 1. Juni 2022 lieferte sich das Ex-Paar einen gerichtlichen Streit um die Frage: wer lügt? Zur Erinnerung: Depp warf seiner Ex Verleumdung vor, weil diese in einem Op-Ed (einem Meinungsbeitrag, der dem Editorial gegenübergestellt wird) 2018 in der Washington Post schrieb, dass sie häusliche Gewalt erlebt habe. Depps Name wurde zwar nicht genannt, er wurde von anderen Medien jedoch mit der Geschichte in Verbindung gebracht. Der Schauspieler forderte von Heard deshalb 50 Millionen Dollar. Heard entgegnete diesem Vorwurf mit einer Gegenklage von 100 Millionen Dollar.

Das Besondere an diesem Prozess: wirklich jede:r konnte ihn miterleben. Denn während des gesamten Prozesses waren Kameras an, die alles per Livestream ins Netz übertrugen. Die Streams hatten dann wiederum die Folge, dass nicht nur jede:r zuschauen konnte, sondern auch jede:r kommentieren konnte – und das auch tat. Denn der Prozess dominierte wochenlang die Sozialen Medien; Hashtags rund um den Fall gingen viral und wirklich niemand kam an dem Thema vorbei.

Braucht es diese Doku überhaupt?

Da stellt sich natürlich die Frage: warum sollte man sich dann denn überhaupt eine Doku darüber ansehen? Wir haben doch schon alles gesehen? Theoretisch würde ich diesem Punkt komplett zustimmen. Denn insbesondere in den vergangenen Jahren und Monaten wurden Kriminalfälle durch den Hype rund um True Crime online und offline bis in jedes Detail überanalysiert und Fälle aufgerollt, dessen Opfer eigentlich nur Frieden finden wollten (wie etwa im Falle von „Dahmer“). Doch bei „Depp v. Heard“ (im Deutschen „Johnny Depp gegen Amber Heard“) gibt es einen Unterschied. Wir haben zwar alle darüber gesprochen – aber wer hat sich den Prozess denn wirklich angesehen? Und nein, ich spreche jetzt nicht davon, dass man sich Memes und Recaps auf TikTok zu Gemüte geführt hat. Und auch kurze Clips zählen für mich nicht dazu. Ich meine wirklich angesehen!

Darf ich raten: Wohl nicht die Mehrheit. Kein Wunder, denn durch die scheinbar nie enden wollende Berichterstattung online hatten wohl wenige das Bedürfnis, sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Schließlich schien es doch so, als gäbe es ohnehin nur eine „richtige“ Meinung. Denn innerhalb kürzester Zeit war sich Social Media klar: Johnny Depp muss diesen Prozess gewinnen. Die Folge waren unzählige Support-Bekundungen und eine Kampagne gegen Amber Heard, der Lügen und Schauspielerei vorgeworfen wurden.

Social Media wird zum Gericht

Während rund um den „Fluch der Karibik“-Star der Hashtag #JusticeForJohnnyDepp viral geht, sind bei Amber die meisten Posts mit #AmberIsALiar gekennzeichnet. Der Prozess wird zu einem XXL-Social-Media-Event, bei dem sich die Zuschauer:innen in „Teams“ aufteilen und im Livestream jubeln, wenn „ihrem“ Team recht gegeben wird.

Und genau hier setzt „Depp v. Heard“ an. Denn in der knapp dreistündigen Dokureihe wird der Fall ein Jahr später neu aufgerollt – und gezeigt, welche Rolle Social Media bei dem Prozess gespielt hat. Dafür werden die Aussagen von Depp und Heard nebeneinander gestellt. Szenen und Situationen wie körperliche Gewalt, Streitigkeiten und Eskalationen werden dadurch hintereinander von beiden Seiten erzählt. Im Anschluss darauf blendet Regisseurin Emma Cooper verschiedene Online Creator ein, die den Fall online mitverfolgten und zeigt deren Reaktionen.

Wie aus einem Fall über häusliche Gewalt ein Meme-Marathon wurde

Wir bekommen so ein Bild davon, wie massiv die Meinung in Richtung „Team Johnny“ ging. Und erleben, wie krass der Kontrast zwischen dem, was gesagt wurde, und dem, wie es Social Media verarbeitet hat, zu dieser Zeit war. Ein Beispiel gefällig? In einer Szene sehen wir Ambers Aussage, in der sie unter Tränen die Szene beschreibt, in der Johnny Depp ihr gegenüber zum ersten Mal gewalttätig wurde. Als Heard Depp nach seinen Tattoos befragt und über sein „Wino Forever“ am Arm lacht, kippt die Stimmung.

Depp soll sie mit den Worten „Du findest das so lustig, Schlampe. Du denkst, du bist eine lustige Schlampe“ beschimpft haben. Und ihr dann ins Gesicht geschlagen haben. Dreimal soll er ihr ins Gesicht geschlagen haben, bis Heard zu Boden fiel, behauptet sie. „Plötzlich wurde mir klar, dass mir das Schlimmste passiert ist, was einem passieren kann, und ich wünschte mir so sehr, er hätte gesagt, dass es ein Scherz war, denn es tat nicht weh. Er hat mir nicht körperlich wehgetan“, erinnert sie sich in ihrer Aussage. „Aber ich saß einfach nur auf diesem Teppich, schaute auf den schmutzigen Teppich und fragte mich, wie ich auf diesem Teppich gelandet war und warum ich vorher nie bemerkt hatte, dass der Teppich so schmutzig war.“

Fragen können bis heute nicht beantwortet werden

Ein einschneidender Moment im Prozess, der auch in „Depp v. Heard“ gezeigt wird; gefolgt von einem Cut und jenen Memes, die daraus gemacht wurden. Memes, die sich über den schmutzigen Teppich lustig machen, Ambers Gestik und Mimik nachäffen und die Situation so ins Lächerliche ziehen. Sogar Stars wie *NSYNC Star Lance Bass machen sich online über die Situation lustig.

Es ist nur eines von unzähligen Beispielen in der Doku, die zeigen, welcher Hetzjagd Amber im Laufe des Prozesses ausgesetzt war. Dass hinter den Schmutzkampagnen und viralen Memes nicht nur Johnny Depp Superfans standen, sondern vielleicht auch der ein oder andere Bot, wird dann im letzten Teil der Doku suggeriert. Dass Depp damit etwas zu tun hatte, bestreiten er und sein Team jedoch weiterhin.

Nach Außen hin scheint es dadurch auch ein Jahr später noch so, als hätte das TikTok-Gericht sich einfach für Johnny entschieden. Auch die Tatsache, dass Johnny für die Kameras im Gerichtssaal war – und Amber dagegen – wird nicht näher von den Fans online beleuchtet. Ebensowenig wie die Frage, ob die Geschworenen bei diesem XXL-Medienzirkus denn wirklich nicht von den Meinungen und Medien beeinflusst wurden. Warum denn auch, ihnen wird ja recht gegeben. Schließlich gewinnt Depp den Prozess ja (großteils).

„Depp v. Heard“: Nichts Neues, aber wichtige Einblicke

Zeigt die Doku dabei irgendetwas Neues? Nein! Wer sich mit dem Fall auseinandergesetzt hat, wird wohl kaum Überraschungen oder Plottwists erleben, die ihm oder ihr nicht bekannt sind. Für alle, die den Prozess aber nur via TikTok konsumiert haben und schnell eine klare (vorgefertigte) Meinung hatten, könnte die Doku aber ein guter Denkanstoß sein, die Dinge in den Sozialen Medien vielleicht doch genauer zu hinterfragen. Denn am Ende des Tages wissen wir bis heute nicht mit Sicherheit, welche Geschichten des Ex-Paares nun stimmen und welche nicht. Keiner weiß die ganze Wahrheit – bis auf Depp und Heard.

Eine Doku wie diese ist aber auch wichtig, um festzuhalten, wie sich Meinungen und Situationen ändern können. Denn wer sich aktuell durch die Hashtags scrollt, merkt: die Sympathie für Depp bröckelt. Mehr und mehr Menschen sprechen sich online gegen die Art und Weise aus, wie Heard öffentlich behandelt wurde; auch wenn die Unterstützung für Depp immer noch größer scheint. Viele Videos und Memes von damals sind mittlerweile gelöscht (wie auch jenes von Lance Bass). Vielleicht ja ein Symbol dafür, dass mehr und mehr Menschen erkennen, dass nicht jedes Meme so witzig war, wie TikTok und Co es einen glauben ließen.