Jeder Zweite macht’s, doch fast niemand würde tolerieren, wenn es einem selbst passiert – der Seitensprung. Am Ende bleibt nur die Frage übrig: Warum werden so viele Menschen untreu? Und was sollen wir tun, wenn’s passiert?

Der Vorsatz: was du nicht willst, was man dir tut … , scheint beim Thema Untreue gern vergessen zu werden.

Warum werden wir untreu? Und was kommt danach?

Hastig springt Nicole in die U-Bahn. Puh, gerade noch erwischt! Etwas erhitzt und erschöpft lässt sie sich auf den nächsten freien Platz fallen. Sie kann seinen Körper noch auf ihrem spüren, seine festen, fordernden Berührungen, seine Lippen … die Frau am Nebensitz scheint sie streng zu mustern. „Kann sie es sehen? Ahnt sie, welche schmutzigen Dinge ich gerade noch getan habe?“ – Nicole errötet leicht. Zu Hause angekommen, sitzt ihr Freund vor dem Fernseher. „Armer Schatz. Schon wieder Überstunden gemacht?“ – Er tätschelt sie und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich geh’ mal eben unter die Dusche“, murmelt Nicole. Sie verriegelt die Tür und lauscht nach draußen. Dumpf hört sie das monotone Geräusch des Fernsehers vom anderen Ende der Wohnung. Erst, nachdem sie sich vergewissert hat, allein zu sein, setzt sie sich an den Wannenrand und beginnt zu weinen.

Die Liebe ist monogam, der Mensch ist es nicht

Viele von uns wissen, wie es sich anfühlt, die erste große Liebe zu betrügen. Es passiert in schäbigen Hotelzimmern oder auf der Couch eines Bekannten; meist verbunden mit dem einen oder anderen Gläschen zu viel, einem Gefühl von Leichtigkeit oder auch von Rache. 90 Prozent der Österreicher wünschen sich absolute Treue, doch jeder Zweite betrügt mindestens einmal im Leben seinen Partner. „Die meisten wünschen sich, dass diese Beziehung ihnen alles bietet, eine emotionale Heimat, Stabilität und sexuelle Erfüllung. Die Liebe ist zwar monogam, nur der Mensch ist es nicht“, so der Paartherapeut Klaus Heer in der Zeit.

Für viele ist es der Reiz des Neuen, des Verbotenen, des Abenteuers. Manche tun es aus sexueller Unzufriedenheit heraus, wollen Defizite in der Beziehung durch einen Dritten kompensieren. „Nach der ersten Verliebtheitsphase werden viele Paare eiskalt von der Realität erwischt: Alltägliches und Probleme nehmen zu und die Leidenschaft für den anderen, aber auch für sich selbst, geht flöten. Aus mangelnder Erfahrung und Unwissenheit reagieren die meisten mit Frust, Streit und Distanz. Was entsteht, ist ein Vakuum zwischen zwei Menschen, welches für eine dritte Person direkt einladend ist, sofern sich die beiden nicht dessen bewusst sind und etwas dagegen tun“, so der Wiener Paartherapeut Dominik Borde.

Untreu sein war noch nie so einfach

Und „die dritte Person“ lauert in Zeiten von Social Networks wie Tinder und Co. überall. Gibt man bei der Suchmaschine Google das Wort „fremdgehen“ ein, sind die ersten drei Ergebnisse Webportale, die zum perfekten Seitensprung einladen. Die mobile Dating-App Tinder sieht sich nach einer Studie der britischen Marktforscher GlobalWebIndex mit dem Vorwurf konfrontiert, dass jeder Zweite der User eigentlich in einer Beziehung steckt und fremdgehen will. Untreue war noch nie so einfach und unkompliziert wie heute. Man muss noch nicht mal die Wohnung dazu verlassen. Betrügen beginnt für viele nämlich nicht erst beim Sex, sondern auch schon im Kopf. „Emotional Cheating“ nennt man den in den USA geprägten Begriff für den emotionalen Betrug mittels virtuellem Seitensprung. Meist beginnt es harmlos: ein kleines Geplänkel oder um einfach mal zu probieren, wie viel Chancen man noch am Partnermarkt hätte.

Oft geht es einfach nur darum, dem Selbstbewusstsein einen Aufschwung zu geben. Problematisch wird’s jedoch, wenn der regelmäßige Austausch übers Netz zum echten Bedürfnis wird. Gerade Frauen neigen dazu, sich durch die neu gewonnene Aufmerksamkeit und Schmeicheleien zu verlieben. Die gedankliche Affäre schafft automatisch Distanz zum Partner. „Mit dem Alter lerne ich, zu flirten, ohne gewisse Grenzen zu überschreiten. Die jüngere Generation tut sich schwer damit, rechtzeitig Nein zu sagen“, so die Paar- und Sexualtherapeutin Dr. Claudia Wille. Hört man dann von seinen Freundinnen, was sich bei ihnen via Tinder abspielt, will man gern nachziehen, um dazuzugehören. „Junge Frauen lassen sich leider sehr von ihrem Umfeld beeinflussen. Da ist es eben die Aufgabe von jeder Einzelnen von uns, zu lernen: Wie kann ich das aushalten und wie kann ich trotzdem zu meinen Werten stehen und den Weg der Treue gehen?“, so Dr. Wille.

Seitensprung: Was dann?

Seitensprünge werfen Fragen auf. In jedem Fall tun sie weh. Zumindest einem der Betroffenen. Jetzt ist es wichtig, die Gründe näher zu betrachten und kritisch zu hinterfragen: Warum bin ich fremdgegangen? Was fehlt mir in meiner Beziehung? Was kann ich oder mein Partner tun, um diese Situation zu ändern? Und ist es notwendig, meinem Partner den Seitensprung zu beichten? Es sollte nicht nur darum gehen, sein schlechtes Gewissen zu erleichtern. In jedem Fall muss man offen dem Partner seine Wünsche und Bedürfnisse mitteilen. Denn nur so erhält er die Chance, seinen Beitrag zur Besserung der Beziehung zu leisten. Und vielleicht ergeht es ihm ja ganz ähnlich?

Nur durch diese Offenheit kann wieder neue Nähe entstehen. Will man sich nach einem Seitensprung aber erst gar nicht mit seinen Motiven auseinandersetzen, sondern steht dem Ganzen eher gleichgültig gegenüber, sollte man sich ernsthaft fragen, ob für die gemeinsame Beziehung noch Zukunft besteht. Auch wenn in vielen Beziehungen ein Seitensprung der Anfang vom Ende ist: Er ist auch die Chance für neues Glück. Denn jeder Konflikt bietet auch die Chance auf ein Happy End