Wenn euch in den unpassendsten Momenten für eine Millisekunde absurde Dinge in den Sinn kommen – wie jemanden vor die U-Bahn zu schubsen oder gegen die Tunnelwand zu fahren –, dann habt ihr es vermutlich mit sogenannten Intrusive Thoughts, also „sich aufdrängenden Gedanken“, zu tun.

Doch wo liegt die Grenze des Normalen und ab wann spricht man von Zwangsgedanken? Wir haben nachgeforscht!

Intrusive Thoughts: Das steckt hinter dem Phänomen

Folgendes Szenario: Ihr sitzt mit einer Gruppe in einem Lokal, verbringt dort einen schönen Abend – und plötzlich schießt euch ein verstörender Gedanke durch den Kopf. Vielleicht nur schemenhaft, vielleicht aber auch klar und deutlich. Meist sind es nur kurze Impulse, die zeigen, wie ihr eurem Gegenüber ein Getränk ins Gesicht kippt, es beschimpft oder (die Fortgeschrittenen-Variante) ihm tatsächlich ein Messer ins Herz rammt. „Was war das gerade?!“, „Stimmt etwas nicht mit mir?!“ – diese Gedanken sind meist zu beschämend, um sie laut auszusprechen.

Also versucht ihr, sie schnell wieder zu vergessen. Doch was, wenn wir euch sagen, dass der Großteil der Menschen schon einmal mit diesem Phänomen zu tun hatte? Es gibt dafür sogar einen Namen: Intrusive Thoughts.

Bin ich ein schlechter Mensch?

Unser Gehirn ist eine Klasse für sich. Wer es wirklich verstehen will, muss ein jahrelanges neurowissenschaftliches Studium absolvieren – und selbst dann weiß man nur einen Teil darüber. Dennoch können unsere Hirngespinste manchmal ganz schön verstörend sein; da kann man nur dankbar dafür sein, dass Gedankenlesen immer noch ausschließlich in fiktiven Welten möglich ist. Denn es gibt wohl kaum Menschen, die wollen, dass andere sehen, wie sie sich gerade vorstellen, jemanden auf die U-Bahn-Gleise zu stoßen, einen Säugling fallen zu lassen oder das Handy eines anderen von einer Brücke zu werfen.

All das fällt – in vielen Fällen – unter sogenannte Intrusive Thoughts, also sich aufdrängende Gedanken, die unangekündigt auftauchen und oft nur den Bruchteil einer Sekunde andauern, nur um dann wieder zu verschwinden. Aber nicht immer vergessen wir so einfach, was wir gerade vor unserem inneren Auge gesehen haben. Stattdessen fragen wir uns: Bin ich ein schlechter Mensch? Bin ich krank? Bin ich gefährlich?

„Es ist ganz normal“

Meistens lautet die Antwort darauf: Nein! Denn höchstwahrscheinlich hatte es jede:r schon einmal mit Gedanken dieser Art zu tun; wenn auch unbewusst (laut Studien ganze 94 Prozent). Um besser verstehen zu können, was da überhaupt in uns vorgeht, haben wir mit Psychotherapeutin Barbara Haid darüber gesprochen. Ihre Definition von Intrusive Thoughts: „Wenn wie aus dem Nichts äußerst unangenehme Gedanken zu sensiblen, tabuisierten, sozial nicht erwünschen Inhalten auftauchen. Zumeist sind diese Gedanken bedrohlicher Natur, denn sie betreffen Themen wie Gewalt, Sexualität, Tod, Aggression, Wut, Rache; allesamt angsteinflößend“, so Haid. Die Expertin kann aber gleich Entwarnung geben: „Es ist ganz normal, immer wieder mal solche Gedanken zu haben. Wir Menschen haben positive und negative Gefühle und Gedanken. Wir legen auch manchmal Verhaltensweisen an den Tag, die nicht primär sozial erwünscht sind.“

Angst vor dem Kontrollverlust

Wenn wir von Intrusive Thoughts sprechen, dann spielen sich die oben genannten sozial unerwünschten Verhaltensweisen sehr bildhaft in unserem Kopf ab. Häufig ist das Worst-Case-Szenario aber lediglich ein kurzes Innehalten und die verdutzte Frage, welcher schräge Bereich unseres Kortex hier kurzzeitig aktiviert wurde. Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Gedanken zwar messbare Hirnprozesse, die aufgrund von Verknüpfungen und Signalwegen von Nervenzellen entstehen, dennoch ist es noch nicht gelungen, genau zu erforschen, welche Prozesse sich hier in unserem Gehirn abspielen.

Es ist also ein Ding der Unmöglichkeit, selbst herauszufinden, wieso wir jemandem in unseren Gedanken impulshaft Schmerzen zufügen, obwohl wir die Person doch eigentlich sehr gerne haben. „Man sieht sich bei Intrusive Thoughts grundsätzlich meist in der Täter:innen-Rolle, vor allem auch gegen positiv besetzte Personen“, stimmt die Psychotherapeutin zu. Aber wieso eigentlich? Ist es Neid? Unzufriedenheit? Oder etwas vollkommen anderes? „Ein zentrales Moment ist hier immer die Angst vor einem Kontrollverlust“, klärt Haid auf. Diese Angst kann durchaus auch unterbewusst stattfinden.

Stress als Schlüsselfaktor

Sich aufdrängende Gedanken können also auch für unangenehme, negative Gefühle sorgen und uns mehr beschäftigen, als uns lieb ist. „Dabei können auch massive Ängste entstehen, ein ‚schlechter Mensch‘ zu sein beziehungsweise zu werden; bis hin zur Panik, den ‚Verstand zu verlieren‘“, so die Expertin. Bemerken wir, dass wir öfters mit derartigen Gedanken konfrontiert sind, dann kann neben der Angst vor Kontrollverlust auch eine weitere Ursache dahinterstecken. „Intrusive Thoughts entstehen sehr häufig in Zeiten von Stress und lebensgeschichtlichen und biografischen Umbruchzeiten wie Pubertät, junger Elternschaft und Co“, erklärt uns Barbara Haid und gibt uns auch gleich ein paar gröbere Beispiele.

„Eine junge Mutter hat vielleicht Gedanken mit dem Inhalt, ihrem Baby Leid zuzufügen; ein junger Bursche hat möglicherweise Gedanken mit dem Inhalt, sich einer Mitschülerin oder Lehrerin sexuell, auch gegen ihren Willen, anzunähern.“ Aber ab wann sollte man in Erwägung ziehen, dass eine Grenze überschritten wurde und man möglicherweise unter Zwangsgedanken leidet? Haid: „Wenn sie nur fallweise auftreten und auch wieder weggehen, muss man sich normalerweise keine Sorgen machen; handelt es sich aber um immer wiederkehrende Gedanken, die sich immer auf dasselbe beziehen, Leidensdruck verursachen und sich in weiterer Folge auf das Verhalten und die Handlungsebene auswirken, kann man sehr wohl von einer psychischen Erkrankung – wie einer Zwangsstörung – sprechen.“

Mental-Health-Trend auf Tiktok

Wer sich oft mit Tiktok beschäftigt, der wird möglicherweise bereits von sich aufdrängenden Gedanken als „Mental-Health-Trend“ gehört haben – denn der Hashtag #intrusivethoughts zählt bereits mehr als 900 Millionen Aufrufe. Allerdings befinden sich in diesem Ozean voller Videos auch unzählige Clips, die derartige Gedanken weniger als angsteinflößendes psychologisches Phänomen ansehen, sondern vielmehr als humorvolle Art und Weise, impulsives Handeln zu rechtfertigen.

Ein Beispiel: Wenn in einem Video mit dem Titel „Wenn deine Intrusive Thoughts mal wieder gewonnen haben“ Dinge wie etwa eine junge Frau, die einen verbotenen Knopf in einem Fahrstuhl drückt oder ihre Couch um zehn Zentimeter nach links verschiebt, zu sehen sind, dann lasst euch gesagt sein, dass es sich dabei mit Sicherheit nicht um richtige Intrusive Thoughts handelt. Aber immerhin ist der Zugang da, dass sich die breite Masse mit diesem Thema intensiver auseinandersetzt. Denn so fällt es Betroffenen – und damit meinen wir mehr als 90 Prozent der Menschheit! – leichter, mit Gedanken umzugehen, die eigentlich fehl am Platz, aber dennoch vollkommen normal sind.

Sofort-Tipps gegen Intrusive Thoughts

Wer mal wieder von Gedanken gequält wird, die sich auf äußerst unangenehme Weise aufdrängen, der/die könnte es mit den folgenden Tipps versuchen:

1. Intrusive Thoughts erkennen

Um mit den unangekündigten Hirngespinsten bestmöglich umzugehen, ist es zunächst wichtig, diese als Intrusive Thoughts zu erkennen und abzugrenzen. So können wir sicherstellen, dass derartige Gedanken auch wieder verschwinden. Stellt ihr euch also ab und zu kurze Szenen vor, die gegen allgemeine Moralvorstellungen und eure eigenen Werte verstoßen, dann habt ihr es höchstwahrscheinlich mit diesem neurologischen Phänomen zu tun.

2. In eine positive Richtung lenken

Das Gute an unseren Gedanken: Wir können sie meistens innerhalb von Sekunden verändern. Damit das auch länger anhält und die innerliche Vorstellung von einem Mordversuch am Bahngleis vergeht, können wir versuchen, das Szenario in eine positive Richtung zu lenken. So kann aus dem Bahngleis etwa ein Teich voller Zuckerwatte werden oder ihr könnt den Intrusive Thought umkehren, indem ihr besagte Person beispielsweise davor rettet, auf die Gleise zu springen

3. Darüber sprechen

Schon klar: Es ist alles andere als einfach, über Gedanken zu sprechen, die höchst unwillkommen, absurd und beschämend sind. Aber nachdem wir jetzt wissen, dass es dem Großteil der Menschheit gleich ergeht, können wir definitiv auch ganz offen darüber sprechen. Das hat nicht nur einen erleichternden Effekt, sondern hilft möglicherweise auch, die Gedanken besser verarbeiten zu können.