In Polen hat die Frauenbewegung zu einem landesweiten Streik gegen die geplante Verschärfung des Abtreibungsverbots aufgerufen. Schon seit Tagen gibt es Proteste in dem EU-Land, dessen Abtreibungsrecht zu den strengsten in Europa gehört.

Man könnte meinen, dass die Regierungen von Industrieländern im Jahr 2020 eher darüber nachdenken, das Abtreibungsrecht zu lockern. Doch Polen ist kein Einzelfall. Im Sommer hat Brasilien seine ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetze verschärft. In den USA ist am 27. Oktober eine Frau an den Obersten Gerichtshof bestellt worden, die als konservative Abtreibungsgegnerin gilt.

Die Frau und ihre Kinder

Ein Mann ist ein Mann. Er ist so wie er ist. Selten wird das auf sein Geschlecht zurückgeführt. Eine Frau ist eine Frau. Sie ist so wie sie ist. Meistens wird das auf ihr Geschlecht zurückgeführt. Denn eine Frau ist entweder Hausfrau, Mutter, kinderlos, Karrierefrau, sie ist entweder ein graues Mäuschen oder hysterisch, eine Zicke, verbissen oder naiv. Egal ob eine Frau eine Familie gründen möchte oder nicht: Ihre Existenz wird meist mit ihren Kinder beziehungsweise dem Fehlen dieser in Verbindung gebracht. Kinder sind immerhin unverzichtbar für das Fortbestehen des Menschen. Frauen sind unverzichtbar, um Kinder auf die Welt zu bringen. Ja, Männer ebenso, allerdings ist der Job von Frauen um ein ganzes Stück länger und schwieriger. Denn nach – in der Regel – neun Monaten Schwangerschaft wartet die Geburt und die Stillzeit auf den Frauenkörper.

Vielleicht erklärt das, wieso wir noch immer, wenn wir an Kindererziehung, Hausarbeit, Kochen, Windeln wechseln oder auch nur Babysitting denken, meist eine weibliche Person vor unserem inneren Auge sehen, die diese Tätigkeiten verrichtet. Vielleicht liegt das aber auch an dem momentanen Status Quo in unserer Gesellschaft. Denn, obwohl wir uns gerade in der vierten Frauenrechtsbewegung befinden, Frauen seit mindestens über einem Jahrhundert für mehr Rechte kämpfen und sich das Bild der Frau seit Anfang des 20. Jahrhunderts doch um einiges geändert hat, sind wir noch lange davon entfernt, eine Frau als Frau, unabhängig von ihrem Geschlecht und den historischen Verpflichtungen, die damit einhergehen, anzusehen.

Mehr Rechte, mehr Pflichten

In den reichen Industrieländern hat sich etwas getan, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Frauen dürfen studieren, arbeiten, Karriere machen. Es ist aber noch ein langer Weg bis die uralten gesellschaftlichen Strukturen endlich in ihrem Fundament erschüttert sind. Jene Strukturen, die dazu geführt haben, dass vor allem weiße Männer Entscheidungs- und Machtpositionen besetzen. Es sind jene Strukturen, die verhindern, dass ebenso viele Frauen Entscheidungen treffen und dadurch den Weg für tatsächliche Gleichberechtigung ebnen können. Dennoch sind wir mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem es zumindest in der Öffentlichkeit zur guten Schule gehört, Frauen und Männer gleichzubehandeln.

In der Realität kam aber mit der Ausweitung der Frauenrechte auch die Ausweitung der Frauen-Pflichten. Denn während immer mehr Frauen eine Karriere einschlagen, sind es nicht ebenso viele Männer, die vermehrt mit den Kindern zu Hause bleiben. Das lässt sich momentan gut anhand der aktuellen Corona-Krise zeigen. Frauen erledigen laut einem UNO-Bericht weltweit während der Pandemie dreimal so viel unbezahlte Haus- und Pflegearbeit wie Männer. Noch immer also bleibt die unbezahlte Hausarbeit an Frauen hängen. Zusätzlich zu den biologischen Verpflichtungen der Schwangerschaft, der Geburt, der Stillzeit kommt für die Frau also die Zeit der Betreuung und der Erziehung hinzu. Und die Karriere darf die moderne Frau auch nicht vergessen. Immerhin darf Frau das jetzt. Keiner hält sie davon ab, oder? In fast jedem Land der Welt haben Männer übrigens noch immer eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich am Arbeitsmarkt zu beteiligen.

Abtreibung: Eine Entscheidung

Die moderne Frau darf also alles können: Sie darf Kinder kriegen, sie darf arbeiten, sie darf Familienmitglieder pflegen während sie arbeitet. Hier stellt sich die Frage: Darf oder muss? Angesichts der Tatsache, dass Kinderbetreuung noch immer vorwiegend auf die Frau zurückfällt, und dass man alles, was mit Familie und Kindern zu tun hat, sowieso mit der Frau assoziiert, sollte die Frau doch auch entscheiden dürfen, ob sie Kinder bekommt, oder? Und sollte sie im Falle einer ungewollten Schwangerschaft nicht auch entscheiden dürfen, den Fötus beziehungsweise Embryo nicht auszutragen? Die Gründe, warum Frauen abtreiben, sind unterschiedlich. Einerseits sind Kinder teuer.

Laut einem USDA-Report aus dem Jahr 2017 geben, Eltern in den USA im Zeitraum von der Geburt bis zum Alter von 17 Jahren umgerechnet 203.000 Euro pro Kind aus. Und da sind die Ausbildungskosten noch nicht mit einberechnet. Andere Frauen sind sich nicht sicher, ob sie nach der Elternzeit, wieder in ihren Job einsteigen können. Und dann sind da noch Faktoren wie eine schwere Behinderung des Kindes oder eine Vergewaltigung, die zur Schwangerschaft geführt hat. Manche Frauen wollen aber einfach keine Kinder, sie sehen sich nicht als Mutter, sie wollen ihr momentanes Leben nicht verändern. Und in unserer Gesellschaft ist es nun einmal Realität, dass sich das Leben einer Frau drastisch verändert, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hat.

Über Abtreibung spricht man nicht

Die meisten Länder in der Europäischen Union erlauben übrigens einen Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Frau während des ersten Trimesters. Nach dem ersten Trimester ist eine Abtreibung nur unter bestimmten Umständen erlaubt. Gründe sind beispielsweise die Gefahr für Leben oder Gesundheit der Frau, Defekte beim Fötus oder andere spezifische Situationen, wie Vergewaltigung oder das Alter der Frau. In Österreich sind Abtreibungen im zweiten Trimester nur zulässig, wenn die Schwangerschaft eine ernste Gefahr für die körperliche oder psychische Gesundheit der Frau oder eine unmittelbare Gefahr für das Leben der Frau ist, bei schweren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung des Fötus; oder wenn die Betroffene unter 14 Jahre alt ist. Diese Gesetzeslage gilt als liberal.

Dennoch reden auch hierzulande nur die wenigsten über das Thema. Es scheint noch immer ein Tabu zu sein. “Ich denke, es ist sehr stark in unseren Köpfen verankert, ‘eigentlich soll oder darf ich das nicht machen’”, erklärt sich Michaela Kaiser, stellvertretende Vorsitzende des österreichischen Vereins für Schwangerschaftsberatung ZOE, das Tabu rund um den Schwangerschaftsabbruch. Eine Situation, die vielleicht auch dazu führt, dass viele Frauen nach einer Abtreibung nicht komplett damit abschließen können. “Die Frauen sollten nicht so tun, als wäre nichts. Der Abbruch macht etwas mit uns. Den Frauen muss bewusst werden, dass Verdrängung die schlechteste Lösung ist. Wir haben immer wieder mit Frauen zutun, die an Depressionen leiden, weil sie die Abtreibung nicht aufgearbeitet haben”, erklärt Kaiser.

In Polen streitet man über Abtreibung

Die Frauen in Polen haben momentan keine andere Wahl, als über Abtreibung zu sprechen. Denn in dem EU-Land – das eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas hat – ist ein Streit um eine Verschärfung des Abtreibungsverbots ausgebrochen. “Wir nehmen unbezahlten Urlaub. Wir schließen die Firma. Oder ganz einfach – wir gehen nicht zur Arbeit”, hieß es Ende Oktober in einem Aufruf der Organisation „Allpolnischer Frauenstreik“.

Besonders Arbeitnehmerinnen von Stadtverwaltungen folgten dem Aufruf, wie polnische Medien berichteten. Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts, wonach auch Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Fehlbildungen des ungeborenen Kindes verfassungswidrig seien, gab es in Polen zahlreiche Proteste. Zuvor war ein Abbruch legal, wenn die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdete, wenn sie Ergebnis einer Vergewaltigung war oder wenn das Ungeborene eben schwere Fehlbildungen aufwies. Letzteres ist bisher der häufigste Grund für eine Abtreibung, wie die Statistik des Gesundheitsministeriums zeigt. Laut Alicja Flisak, Sprecherin von Dziewuchy Berlin, einem polnischen Pro-Choice-Kollektov in Deutschland, kommt die Verschärfung einem absoluten Abtreibungsverbot nahe.

Denn fast 97 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche in Polen werden aufgrund von Fehlbildungen des Ungeborenen durchgeführt. Hinzu kommt, dass Abtreibungen nach Vergewaltigungen und bei Gefährdung der Mutter zwar offiziell legal seien, die Frauen in der Praxis aber auf Hindernisse stoßen würden. “Die Prozeduren, die Frauen durchmachen müssen, um eine Vergewaltigung nachzuweisen sind grausam. Die Polizisten wollen die Vergewaltigung meist gar nicht als Straftat aufnehmen”, so Flisak. Es sei so unheimlich schwierig, eine Erlaubnis für eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung innerhalb der Frist zu bekommen.

Die andauernden Proteste gegen die Verschärfung der Abtreibungsgestze sind überschattet von der Corona-Pandemie. “Das letzte Mal wurde die Versammlungsfreiheit während des Lockdowns massiv eingeschränkt – und damit auch die Möglichkeit, Widerstand zu leisten“, erklärt Alicja Flisak.

Wieso dürfen Frauen nicht entscheiden?

Ein Grund für die heftige Debatte um strengere Gesetze ist für Alicja Flisak sicherlich die Macht der katholischen Kirche in Polen. Diese wiederum habe einen starken Einfluss auf das konservative Familienbild der rechten Regierungspartei PiS. Ein Familienbild, das vor allem die Frau in die Pflicht nimmt, wenn es um Kinderbetreuung geht. Wieso also, darf sie nicht selbst entscheiden, ob sie ein Kind bekommen möchte oder nicht? Ein Abtreibungsverbot verhindert ohnehin keine Abtreibungen. Denn die Gesetzeslage bestimmt nicht, ob Frauen abtreiben, sondern lediglich wie sie abtreiben. Ob sie es legal und in einem geschützten Umfeld tun, oder illegal.

“Wir wissen, dass restriktive Gesetze Schwangerschaftsabbrüche keinesfalls verhindern, sondern die betroffenen Frauen nur in riskantere Situationen, wie zu Hinterhofpfuschern, in die Illegalität und nur allzu oft in den Tod drängen”, erklärte Petra Bayr, SPÖ-Bereichssprecherin in einer Presseaussendung anlässlich des Safe Abortion Days im September 2020. Wieso also wird immer noch über das Thema gestritten? Wieso dürfen Frauen nicht selbst über ihren Körper und ihre Zukunft entscheiden?