Mit ihrem Blog Dariadaria erreicht Madeleine Alizadeh monatlich mehr als 60.000 Menschen. Diese Reichweite nutzt die 26-Jährige, um Gutes zu tun: Sie fährt mehrmals pro Woche mit Sachspenden nach Traiskirchen und bloggt über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit den Flüchtlingen.

Als sie eine irakische Familie mit einem kleinen Kind und einer schwangeren Frau kennenlernte, die in einem nassen Zelt im Freien schlafen müssen, beschloss Madeleine, sie dort rauszuholen: Sie fuhr mit der Schwangeren zum Arzt und organisierte mit Hilfe der Diakonie ein Zimmer für die Familie in Niederösterreich. Doch die irakische Familie durfte Traiskirchen nicht verlassen. Denn ihr fehlte noch die weiße Karte, die bedeutet, dass das Asylverfahren läuft und so den Flüchtlingen erlaubt, sich in Österreich frei zu bewegen.

Deshalb wandte sie sich mit einem offenen Brief an das Innenministerium:

 Sehr geehrte Beamtinnen, sehr geehrte Beamten,

ich, österreichische Staatsbürgerin, möchte mich mit diesem Schreiben an Sie wenden, da Sie uns ÖsterreicherInnen am 17. August 2015 um Hilfe gebeten haben. Sie haben an unsere konstruktiven Kräfte appelliert, von einem seriösen und sachlichen Dialog gesprochen. Sie sprachen von Zusammenarbeit.

Ich heiße Madeleine Alizadeh, bin 26 Jahre alt und seit einigen Wochen fahre ich fast täglich von Wien nach Traiskirchen. Ich kenne die Menschen dort beim Vornamen, weiß welches Kind welche Süßigkeiten gerne isst. Ich habe syrische Freunde gefunden mit denen ich am Sonntag essen gehe, während sie mir Schnitzel kauend arabische Wörter beibringen und ich ihnen versuche zu erklären wieso ich kein Fleisch esse. Ich whatsappe täglich mit Menschen die in Zelten schlafen, ich schicke ihnen Fotos vom Sofa Zuhause, sie schicken mir Selfies aus dem Zelt. Sobald es zu regnen anfängt wird mir übel, weil ich weiß dass das bedeutet dass meine Freunde jetzt frieren. Ich erkenne Telefonstimmen vom Diakonie Wohnservice schon beim Namen, oft schmunzeln wir wenn wir zum 4. mal in Folge an einem Tag telefonieren und ich „kenne“ die Menschen am Telefon schon so gut, dass ich mich nicht mal mehr schäme wenn ich vor lauter Verzweiflung ins Telefon schluchze. Ich übersetze Arabisch mit Google Translate und ärgere mich einmal mehr dass mein iranischer Vater nie Farsi mit mir gesprochen hat, weil ich meine afghanischen Freunde nicht verstehe. Meine Wohnung ist ein Lager aus Männerschuhen in Größe 40 bis 43 (ja, Syrer haben kleinere Füße als Österreicher), Schlafsäcken, Trolleys (Flüchtlinge brauchen auch Gepäck) und Dingen die ich vorher nicht kannte (Milchpulver für Babies? Was ist das?). Ich habe meinen Job liegen gelassen, beantworte seit mehreren Wochen fast keine Mails mehr und widme mich nur mehr der Flüchtlingsthematik, weil meine Eltern mir beigebracht haben nicht wegzuschauen wenn jemand in Not ist.

Sie, das Bundesministerium für Inneres, haben sich an mich gewendet. Ich nehme Ihre Worte ernst, so wie es sich für eine devote und obrigkeitshörige Bürgerin gehört. Und weil ich Ihr Schreiben vom 17. August 2015 so ernst genommen habe, habe ich eine Unterkunft organisiert. Für eine irakische Familie. Eine Familie, deren Haus und Garten im Irak zerbombt wurde. Eine Familie, die einen Fußmarsch durch sämtliche osteuropäischen Länder hinter sich hat. Ein Vater, dessen Bruder erschossen wurde. Eine Mutter, die bereits zwei Fehlgeburten hinter sich hat. Ein Sohn, dem ein besseres Leben ermöglicht werden soll. Eine Familie, die in Traiskirchen nach dem Aufnahmestop angekommen ist und 3 Tage in einem Bus festgehalten wurde. Eine Familie, die täglich von der Polizei vor Ort beschimpft und bedroht wird. Eine Familie für die ich eine Lösung finden wollte. Weil Sie uns BürgerInnen um Lösungen gebeten haben.

Diese Familie hat ein Zuhause das sie nicht beziehen kann. Ein warmes Bett im Haus einer österreichischen Familie, die sie aufnehmen würde. Seit Tagen telefoniere ich mehrmals täglich, schreibe E-Mails, fülle Anträge aus, weine, schreie, fühle mich gelähmt und innerlich zertsört. Weil ich helfen möchte und nicht kann. Ich bin der deutschen Sprache mächtig, habe einen Hochschulabschluss, kenne mich als Selbstständige mit dem österreichischen Bürokratiedschungel ganz gut aus und bin sehr belastbar. Und trotzdem wird es mir unmöglich gemacht zu helfen.

Wie Sie bereits geschrieben haben: pro Woche suchen 1600 Menschen Schutz in Österreich.  Sie schreiben: „In den nächsten Monaten – vor allem vor Einbruch des Winters – muss alles unternommen werden, um Obdachlosigkeit zu vermeiden.“ Sie schreiben auch, dass konstruktive Bemühungen, Quartiere zu realisieren und damit Menschen ein festes Dach über den Kopf zu geben, teils auf unterschiedlichen Ebenen auf Widerstand stoßen.

Den einzigen Widerstand auf den ich stoße sind Sie, liebes Bundesministerium für Inneres.
Als österreichische Staatsbürgerin hatte ich bisher eine ganz gute Beziehung zu meinem Heimatland. Doch wir stecken in einer nachhaltigen Beziehungskrise. Es liegt nicht an mir, es liegt an Ihnen. Ich habe in dieser Beziehung mein Bestes gegeben: kommuniziert, respektiert, vertraut. Alles was man in einer gut funktionierenden Beziehung halt so berücksichtigt. Ich versuche mit allen Mitteln Ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, doch Sie ignorieren mich und die Hilfe, die ich anbiete.

Familie K. aus dem Irak schläft während ich diese Zeilen schreibe in einem komplett durchnässten Zelt in der Akademiestraße in Traiskirchen. 60 km entfernt steht Frau V. in dem Haus das ich vermittelt habe vor einem leeren Zimmer. Die Betten sind frisch bezogen, drei Handtücher liegen drauf: eines für die Mutter, eines für den Vater und eines für den Sohn. Jeden Tag schreibe ich Herr K.: „Bitte lassen Sie den Kopf nicht hängen. Ich finde eine Lösung.“

Ich bin an dem Punkt angelangt wo ich nicht mehr weiß ob diese Lösung tatsächlich existiert. Ich bin an dem Punkt angelangt wo ich nicht mehr weiß ob Souveränität real oder ob nur ein abstrakter Begriff ist, den ich mal im Gymnasium aufgeschnappt habe.
Ich bin an dem Punkt angelangt wo ich nicht mehr weiß was ich tun soll.

Denn ich bin verzweifelt. Weil ich helfen möchte und Sie mich nicht lassen.

Hochachtungsvoll,
Madeleine Alizadeh.

 

Was dann geschah, ist unglaublich: Der Brief wurde unzählige Male in Sozialen Medien geteilt – und das Innenministerium reagierte: Die Familie bekam die weiße Karte ausgestellt und wurde in die private Unterkunft gebracht, wo sie sich derzeit aufhält.

 

Mein Name ist Madeleine Alizadeh und heute ist der schönste Tag meines bisherigen Lebens. Gestern Abend war ich verzweifelt und am Ende. Also habe ich beschlossen zu brüllen. Und darauf zu hoffen dass ich gehört werde. Mein Brüllen wurde gehört. Dank euch, weil ihr geshared, kommentiert, weitergeleitet habt. Dank Armin Wolf, dank der österreichischen Medienlandschaft, die sich dem Thema sofort angenommen hat. Dank des Innenministeriums, das die Dringlichkeit der Lage endlich erkannt hat. Ich freue mich euch mitzuteilen, dass ich die irakische Familie soeben in ihre neuen Unterkunft gebracht habe. Sie sind erschöpft, krank und haben vorerst endlich das was sie verdient haben: Frieden. Es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn in Traiskirchen stehen nach wie vor hunderte Menschen auf der Straße. Doch heute hat eine Revolution begonnen. Wir sind die Generation die Dinge verändern kann, wenn wir nur wollen. Schaut nicht weg, sondern helft. Ihr könnt alles schaffen. ❤️ DANKE ❤️

Ein von @dariadaria_com gepostetes Foto am