Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir mit arbeiten und schlafen. Und dann gibt es da noch die Lebenszeit, die dabei draufgeht, Textnachrichten von Männern zu entschlüsseln. Wird aber auch Zeit, dass diese emotional belastende Arbeit nun endlich einen Namen bekommt!

„Hermeneutic Labour“ bezeichnet diese weibliche Zusatz-Arbeit, die endlich gewürdigt gehört.

Warum Männer zu verstehen harte Arbeit ist

„schön Wars“ – diese zwei Worte erreichen meine Freundin Tanja nach einem vielversprechenden Date mit ihrem neuen Schwarm „P.“. Keine Frage, dass sie diese Kurznachricht regelrecht in eine emotionale Krise stürzt. „Was zum Teufel will er mir damit wohl sagen?“, fragt sie sich. Zur näheren Analyse teilt sie die Nachricht in ihrem Mädls-Gruppenchat, wo wir beide mit zwei anderen Freundinnen den Rest des Abends damit verbringen, genau diese zwei Worte zu diskutieren.

Ob er wohl mit dem Großbuchstaben dem Wort „Wars“ mehr Ausdruck verleihen will? Dies würde ja bedeuten, dass es das mit ihnen war?! Oder war die Schreibform ein Tippfehler und er fand das Treffen genauso schön wie Tanja?! Eventuell wäre das ein Anstoß, die Sache zu wiederholen? Dann stelle sich wiederum die Frage, wie lange sie damit warten solle, sich bei ihm zu melden. Natürlich wolle sie ja nicht riskieren, dass er sich überrumpelt fühlt. Es sind Gedanken und Gespräche wie diese, die uns Frauen tagtäglich beschäftigen – im Speziellen, wenn wir oder eine unserer BFFs einen neuen Typen daten.

„Hermeneutic Labour“ beschreibt diese mühevolle Arbeit

Dass beim Versuch, die oft unklare Kommunikation von Männern zu entschlüsseln, ziemlich viel Zeit draufgeht, haben wir vermutet. Genau wie Elli Anderson. Die Assistenzprofessorin für Philosophie am Pomona College in Claremont, Kalifornien beschäftigt sich mit der Thematik in ihrem Philosphy Podcast „Overthink„. Nun verlieh sie in ihrer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit „Hermeneutic Labor: The Gendered Burden of Interpretation in Intimate Relationships between Women and Men“ dieser belastenden Tätigkeit endlich einen Begriff.

Bei der „Hermeneutic Labour“ zu Deutsch „hermeneutische Arbeit“ geht es vorwiegend darum, „die eigenen Gefühle, Wünsche, Absichten und Motivationen zu verstehen und kohärent auszudrücken; die anderer zu erkennen; und Lösungen für Beziehungsprobleme zu finden, die sich aus zwischenmenschlichen Spannungen ergeben“ wie Anderson in ihrer Arbeit schreibt.

Die Theorie und der Begriff des „Hermeneutic Labour“ knüpft an das bekanntere Konzept von „Emotional Labour“, zu Deutsch „Emotionsarbeit“ an. Darunter versteht man die generelle emotionale Arbeit, die in Beziehungen gesteckt wird. Sei es das Zuhören oder Da-Sein für den Partner oder die Kinder bei Problemen bis zu sämtliche Anstrengungen, die um das Zuhause vorgenommen werden. Dazu gehören etwa Arzttermine zu vereinbaren oder die emotionalen Wutausbrüche des Kindes zu bändigen. Diese meist unsichtbare Anstrengung lastet vorwiegend auf den Schultern von Frauen.

Männer profitieren

Nun ist der Anfang einer Beziehung größtenteils eine Zeit der Ungewissheit, aber Anderson vermutete, dass diese Ungewissheit im Normalfall zu Gunsten der Männer ausfällt. Unterdessen würden die Frauen dazu gebracht, die oft vage gehaltenen Gefühle und Worte der Männer zu erraten, „weil die Männer selbst nicht bereit oder nicht in der Lage waren, sich vollständig auszudrücken“, so Anderson. „Grundsätzlich profitieren Männer davon, dass sie emotionale Bedürfnisse haben, von denen sie vielleicht nicht einmal wissen, dass sie erfüllt werden, und dass sie auch nicht die Last tragen müssen, die Emotionen ihrer Partnerinnen zu interpretieren“, sagte Anderson gegenüber der HuffPost.

Anderson teilt die emotionale Arbeit von „Hermeneutic Labour“ in drei Phasen:

  1. Das Interpretieren der eigenen Gefühle und Absichten
  2. Die Gefühle, Wünsche und Absichten der anderen Person durch nonverbale Hinweise oder minimale Kommunikation zu interpretieren
  3. Der Vergleich und die Gegenüberstellung beider Gefühle und Absichten zum Zwecke der Konfliktlösung

Warum Beziehungsarbeit Frauenarbeit ist

Laut Anderson sei die „weibliche Intuition“ eine hart erkämpfte Errungenschaft, deren Erzielung und Aufrechterhaltung Jahre in Anspruch nehmen würde. „Wir neigen dazu, die beträchtliche Arbeit zu leugnen, die Frauen leisten, um Beziehungen aufrechtzuerhalten, sowie die Tatsache, dass ein Großteil dieser Arbeit kognitiver Natur ist“, behauptet Anderson im Interview mit der HuffPost. Zwar könne man nicht pauschalisieren, dass Männer sich nicht an der hermeneutischen Arbeit beteiligen würden, allerdings käme dies bei weitem nicht an das Pensum ihrer Partnerinnen heran.

Andersons Forschungsarbeit konzentriert sich auf Hetero- und Cisgender-Paare, da sie ihre Argumentation überwiegend darauf stützt. Doch es existieren auch eine Handvoll Studien, die sich auf die emotionale Arbeit von Cisgender-Frauen als Partnerinnen von Transmännern stützt. Spannend: Laut Anderson sind hier ähnliche Dynamiken wie in heterosexuellen Beziehungen zu finden.

PS: Falls ihr euch immer noch fragt, wie die Geschichte von Tanja und P. weiterging. P. wollte mit dem Zweizeiler tatsächlich nur sagen, dass er das Date mit ihr schön fand. Die beiden sind auch heute noch glücklich zusammen, was Tanja aber nicht davon abhält, sich weiterhin viele Gedanken über seine Taten, Worte und Nachrichten zu machen.