Unter dem Hashtag #maincharacter macht in den sozialen Medien gerade ein neuer Trend die Runde: Junge Menschen spielen Szenarien und stellen sich dabei als „Hauptfigur“ in einer fiktiven Version ihres Lebens vor. Das ganze nennt sich Main-Character-Syndrom.

Immer mehr Psychologen warnen jetzt vor dieser Dynamik. Purer Narzissmus in Aktion oder doch nur ein harmloser Tiktok-Trend?

Der Hauptcharakter in allen sozialen Medien

Ach, Protagonistin in einer romantischen Komödie müsste man sein! Du blickst nostalgisch aus dem Fenster, beobachtest den Regen, während du bei einem traurigen Song an deinen Ex denkst. Beim Shoppen tänzelst du durch die Straßen, hörst dabei „Empire State of Mind“ von Alicia Keys und fühlst dich wie Carrie Bradshaw, die gleich Mr. Big trifft. Obendrauf wird bei dir auch noch jeder, vom Chef bis zum Nachbarn, zum eindimensionalen Oberbösewicht, der es allein auf dich abgesehen hat. Dir kommt das bekannt vor? Dann kann es sein, dass du am Main-Character-Syndrom „erkrankt“ bist.

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Mit dem Syndrom stehst du nicht alleine da: In den sozialen Medien finden wir den Trend derzeit überall. Immer mehr junge Menschen rufen dazu auf, sich selbst als Hauptcharakter einer Story wahrzunehmen. Wie die meisten Dinge heute begann die virale Bewegung im Lockdown: Gelangweilte Teenager nutzten die Videosharing-App TikTok, um der Monotonie der Quarantäne mit kurzen Clips über sich selbst als Stars der Show oder „Hauptfiguren“ in alltäglichen Szenarien zu entfliehen.

Matthias Rohrer, Studien- und Projektleiter beim Institut für Jugendkulturforschung, sieht in der Pandemie (und der damit einhergehenden Main-Character-Bewegung) das Resultat einer jahrzehntelangen Entwicklung: „Viele Menschen denken zuerst an sich selbst, Solidarität mit der Gemeinschaft respektive das Gemeinwohl werden hintangestellt. Jeder und jede ist sich selbst der oder die Nächste – so wurden die Menschen sozialisiert.“

Macht das Main-Character-Syndrom das Leben schöner?

Der Grundgedanke des Trends ist eigentlich ein wirklich schöner: Er verändert, wie ich mein Leben wahrnehme, und kann dazu führen, dass ich aktiver lebe. Tiktokerin Danielle Coralon, eine der Begründe­­rinnen der Bewegung, erklärt gegenüber Study Breaks: „Du musst anfangen, dein Leben zu romantisieren, du musst anfangen, dich selbst als die Hauptperson zu sehen – denn wenn du das nicht tust, wird das Leben an dir vorbeiziehen, und all die kleinen Dinge, die es so schön machen, werden unbemerkt bleiben.“ Ja, wir geben zu, in Zeiten von Selbstliebe, Me-Time und Co klingt das alles nach etwas Erstrebenswertem. Und ja, auch wir wünschen uns manchmal eine romantischere Version unseres Lebens. Also woher kommt nun diese negative Konnotation?

Klar, wir haben uns damals auch riesig über unsere erste Filmkamera gefreut! Und auch wir haben kleine Filmszenen nachgespielt. Aber hier kommt der große Unterschied: Bis auf unsere Eltern, die sich unsere Filmchen höflichkeitshalber „begeistert“ angeschaut haben, hat das sonst einfach niemanden interessiert. Es gab ja auch keine Plattform für unsere aus damaliger Sicht „qualitativ äußerst hochwertigen“ Musikvideos. Denn jaaaa, nicht einmal Youtube war damals ein Thema.

Status durch Follower: Experten warnen

Heute hingegen bekommen Main Character den Zuspruch ihrer Followerschaft und bauen sich dadurch einen Status auf. Kein Wunder also, dass man sich auf einmal wie der Nabel der Welt fühlt. Und genau davor warnen eben immer mehr Experten, denn das Main-Character-Syndrom kann auch Ausdruck von starkem Narzissmus sein. Man möchte sogar interpretieren, dass jemand sich selbst so wichtig nimmt, dass er oder sie ein Leben wie im Film lebt. Der Wiener Psychologe und Psychotherapeut Dominik Rosenauer ist über diesen Trend allerdings wenig überrascht. „Wo es früher das Radio, das Fernsehen oder Computerspiele waren, sind es nun Snapchat, Facebook, Tiktok und Co.

Haben wir ein Narzissmus-Problem?

Jugendliche und junge Erwachsene müssen sich ausprobieren und präsentieren und im Freundeskreis Typen imitieren, um ihre eigene Persönlichkeit zu kreieren“, so Rosenauer. Dazu ist eine „narzisstische Phase“ laut dem Psychologen nichts Ungewöhnliches, da eine solche in der Zeit der späteren Pubertät und der Persönlichkeitsentwicklung durchaus häufig vorkommt. „Die Lederjacken der Rocker der 50er, die schwarze Kleidung der Gruftis, die bunten Haare der Punks – all das ist eine deutliche Überhöhung der Bedeutung der eigenen Person. Die meisten Menschen werden diese Entwicklungsphase irgendwann hinter sich lassen“, meint Rosenauer.

Beim Main-Character-Syndrom geht es allerdings nicht nur um jemanden, der ständig in den sozialen Medien postet – die Medien, die wir zur Verfügung haben, zu nutzen, ist laut dem Psychologen total normal. Der neue Trend ist komplexer: Wenn jemand seine Mitmenschen sozusagen wie Requisiten behandelt, sich über seiner eigenen Realität thronend wähnt und ständig im Mittelpunkt stehen muss – ja, das ist dann ein wahrlich toxischer Hauptcharakter.

Nur der Sidekick?

Als Antwort auf das Hauptcharakter-Phänomen kursieren auf Tiktok mittlerweile schon unzählige Videos von Usern, die zeigen, wie sie sich bewusst geworden sind, dass sie ein eindeutiger Nebencharakter sind. Was in den Videos ganz witzig thematisiert wird, kann sich im echten Leben aber negativ auf das Gemüt und die Psyche auswirken – denn wer steht schon gern im Schatten einer Hauptfigur?

Solltest du dich in dieser Position wiederfinden und dabei unwohl fühlen, dann solltest du definitiv: mit dem „Main Character“ darüber reden, bevor es eure Freundschaft negativ beeinflusst. Denn: Communication is key! Und auch, wenn du vielleicht nicht die Hauptfigur in der Geschichte deiner Freunde bist, kannst auch du dich bemühen, dich in deiner eigenen Geschichtezu zentrieren, während du andere trotzdem aufrichtest. Das scheint auch das große Geheimnis für ein gesundes Maß an Protagonistendenken zu sein. Die eigene Energie der Hauptfigur auszuspielen bedeutet nicht, anderen das Rampenlicht zu stehlen. Eine gute Hauptfigur weiß, wann sie die Leistungen anderer hervorheben muss, ohne sich selbst klein zu fühlen. Also, lasst uns einfach öfters gemeinsam im Regen tanzen … ohne Kamera!